Mächtige Dominanz

Das Steinhaus von Greetsiel wird für die öffentliche Nutzung vorbereitet. Am 10. Juli ist Eröffnung im kleinen Kreis.

Von Ina Wagner

Greetsiel. Wer auf das Steinhaus von Greetsiel in der Kleinbahnstraße 1 zugeht, der sieht einen würdevollen, kompakten Block wie aus einem Geschichtsbuch. Wer das Steinhaus betritt, steht in kleinen, dabei extrem hohen Räumen. Wer aber in den Keller steigt, der staunt, wie niedrig das historische Untergeschoss in Wirklichkeit ist und wie verwirrend groß fotografische Abbildungen wirken können. Ganz unterschiedliche Eindrücke also, aber alles in allem: ein Haus mit langer Geschichte. Und ein Haus, in dem noch gebaut wird. Dafür ist der Norder Architekt Ulrich Kersten zuständig. „Und dieser Mann hat nicht nur das Ganze im Blick, sondern verfügt auch über ein Gefühl für stimmige Details“, versichert Dr. Claas Brons, Vorsitzender der Gerhard ten Doornkaat Koolman-Stiftung.

Dr. Claas Brons und Dr. Klaas-Dieter Voß vor dem Giebel des Greetsieler Steinhauses. Bilder: Wagner

Die Stiftung hat das Haus geerbt – von dem Greetsieler Jan Smidt, der Denkmalpfleger des Landkreises Aurich war. Er legte das Steinhaus buchstäblich frei. Es war nämlich umbaut von einem Bauernhof. Fortan war es Smidts Lebenszweck, dem Steinhaus eine eigenständige Präsenz zurückzugeben. Dem ordnete er alles andere unter. Um die Kosten zu finanzieren, verkaufte er zugehörige Ländereien und eigene Sammlungen. 2019 starb der Denkmalpfleger. Und die Stiftung besaß nun ein historisches Gebäude, ein ganz besonderes Haus. Denn alle Indizien sprechen dafür, dass es sich bei dem Steinhaus um den ersten Wohnsitz der Häuptlings- und späteren Grafenfamilie Cirksena handelt.

Gut vernetzt

Ulrich Kersten von „kerstenarchitekten“ in Norden arbeitet mittlerweile „zu 90 Prozent an alten Häusern“. Das dafür benötigte Material kommt vorwiegend aus Abbruchhäusern und von spezialisierten Unternehmen. Ein eigenes Lager für historische Materialien unterhält Kersten nicht, aber er sei in der Szene gut vernetzt. Aufträge, Steinhäuser zu sanieren, kommen ihm – schon aufgrund ihrer Seltenheit – nicht so oft auf den Schreibtisch. Mit Jan Smidt hatte er erst beruflich, dann auch privat zu tun. Dabei konnte er selber feststellen, welch genaue Vorstellungen der Greetsieler bezüglich seines besonderen Hauses hatte. „Wenn etwas nicht exakt so geriet, wie er es sich vorstellte, wurde alles wieder abgerissen. Egal, was es kostete.“ Da Kersten so oft mit dem exzentrischen Mann über die Vorgehensweise beim Steinhaus gesprochen hatte, wusste er nach dessen Tod ziemlich genau, was zu tun war und was auf keinen Fall gutgeheißen worden wäre.

Links der aus alten Materialien neu angelegte Anbau mit der künftigen Treppenanlage, rechts das Steinhaus mit dem Eingangsportal.

Und so machte sich Kersten an die Arbeit. Besorgte Klinker aus Hinte, Sandsteine aus Bunde, Plavuizen aus Uttum, Sockelfliesen aus Harlingen, Treppensteine aus dem Emder Zollhaus am Eisenbahndock. Passende Beschlägen zu finden, erwies sich als besonders aufwändig. Und manches, was im Handel nicht in der gewünschten Qualität aufzufinden war, ließ er im alten Stil nachbauen.

Blick in den großen Saal mit seinem Boden aus historischen Plavuizen in Grün und Gelb, die in einer Art Teppichmuster verlegt wurden. Hinten ein Kamin, der anhand eines Fundstückes rekonstruiert wurde

Kersten wohnt privat im Ammerland, sein Nachbar ist Schmied und fertigte zum Beispiel den Handlauf zwischen Eingangshalle und großem Saal an. Er passte auch jene Befestigungen an, die zur Montage des Klopfers am Haupteingang des Hauses nötig waren. „Der Klopfer ist ein ganz exquisites Stück, das Jan Smidt bei seinen vielfältigen Exkursionen selber entdeckt hatte“, zeigt sich Kersten von dem mächtigen Stück beeindruckt.

Fachleute wurden immer wieder eingebunden – so auch Denkmalpfleger Hermann Schiefer, nunmehr im Ruhestand. Er legte die Farbgestaltung für die Innenausstattung fest. Seiner Empfehlung entspringt zum Beispiel der spezielle Blauton, der sich im Anbau und an der Außenwand der Butzen im großen Saal wiederfindet.

Akribische Besessenheit

Claas Brons hat sich mit der Geschichte des Hauses ebenso beschäftigt wie der Syndikus der Stiftung, Dr. Klaas-Dieter Voß. Ihm ist aufgefallen, dass das Steinhaus auf der höchsten Warf von Greetsiel liegt. „Höher noch als die Kirche.“ Indiz für das Haus eines hochgestellten Bewohners, meint Brons. Zudem: Der Keller des Steinhauses datiert – laut eines Gutachtens – um 1370. Das wiederum passt zu den Daten der Familie Cirksena, die von Appingen, etwas südlich von Greetsiel, umsiedelten. Zwischen 1362 und 1388 sollen sie das Steinhaus in Greetsiel errichtet haben – als Turmburg auf quadratischem Grundriss. Der historische Gewölbekeller, letztes Relikt eines mittelalterlichen Gebäudes, weist exakt diese quadratischen Maße auf, erläutert Klaas-Dieter Voß.

Das ursprüngliche Turmhaus wurde um 1600 abgerissen und durch jenen Bau ersetzt, den Jan Smidt dann mit akribischer Besessenheit aus dem Bauernhof herausschälte. Er selber wohnte in sehr einfachen Verhältnissen in dem Bau – ohne Gas, Wasser und Strom, aber mit der Zufriedenheit eines Entdeckers. Als die Stiftung das Haus vor zwei Jahren übernahm, gab es zwar einige Ideen zur Nutzung. Doch bald war klar, dass zunächst der Weiterbau Vorrang hatte. So wurden hinter die einschaligen Renaissance-Fenster moderne Fenster gesetzt. Seither seien die Temperaturen beherrschbar, merkt Claas Brons an. Es gibt eine Heizung. Im Anbau, dessen Errichtung aus alten Steinen Smidt noch selber überwachte, wurden ein Badezimmer und eine Küchenzeile installiert, denn es hat sich ein neues Aufgabengebiet für das historische Ensemble gefunden. Die Ländliche Akademie wird es mit Veranstaltungen beschicken und so mit Leben füllen.

Hier geht es von der Eingangshalle aus in den Keller.

Doch auch bei den Einbauten wurde darauf geachtet, dass der alte Stil einheitlich bleibt. Das gilt etwa für die Fußbodenfliesen, die Plavuizen in Grün und Gelb, die von jahrhundertealter Nutzung abgeschliffen oder beschädigt sind. Auch sind die Formate unterschiedlich, was aber den Eindruck der Authentizität eher fördert. Das gilt auch für die Fußbodenleisten, die im Haupthaus historisch, im Anbau neu zugekauft wurden. Allerdings wurden nicht irgendwelche Fliesen eingesetzt, sondern solche aus Harlingen. Im Grundsatz passt also alles zueinander, auch wenn in einem solchen Fall Jan Smidt Einspruch eingelegt hätte, wie Ulrich Kersten vermutet. Aber man müsse ein solches Bauprojekt ja auch irgendwann einmal abschließen.

Zeugen von jahrhundertelanger Benutzung: die ausgetretenen Steinstufen, die direkt in den Keller des Steinhauses führen.

Smidt hat schon im Vorfeld zahlreiche alte Möbel für das Steinhaus ersteigert oder im Antiquitätenhandel gekauft. Es gibt Renaissancestühle, Barockschränke, aber auch einen würdevollen Bücherschrank, der aber offensichtlich aus jüngerer Zeit stammt.

Um das Haus für Veranstaltungen nutzen zu können, wurde Strom installiert, allerdings in einer sehr zurückgenommenen Art und Weise. Leitungen und schlichte Leuchten verbergen sich dezent hinter Balken und kaum einsehbaren Ecken. Für den Eingang zum Keller hat sich Claas Brons eine besondere Konstruktion einfallen lassen: Die kleine Treppe zum höher gelegenen Kaminsaal lässt sich über ein Rollensystem zur Seite schieben – und schon steigt die etwas dumpfe und feuchte Luft des alten Kellers auf.

Über ausgetretene Steinstufen geht es hinunter. Aufrecht stehen kann man hier nicht. Man stößt mit dem Kopf sofort an die mächtigen Kreuzgratgewölbe. Durch schießschartenförmige Öffnungen in den Wänden erfolgt ein steter Luftaustausch, dennoch ist es feucht in dem weitgehend leeren Raum, wo nur etwas Baumaterial gelagert wird, Formsteine und historische Ziegel.

Genau über dem Keller des 14. Jahrhunderts liegt der Saal des 16. Jahrhunderts, der später der Raum für Veranstaltungen werden soll. Von diesem Saal gelang man über eine enge, steile Treppe in ein winziges Gelass im 1. Stock, von dort über eine Bodentreppe aufs Dach, dessen solide gezimmerter Stuhl von bester Handwerkskunst zeugt.

Sehr niedrig und nur durch die kleinen Fenster erhellt: der Keller, der wesentlich älter ist als das Steinhaus.

Dem Saal vorgelagert ist eine Eingangshalle, klein, aber extrem hoch. Von dort wiederum gelangt man in das künftige Lesezimmer – ehemals die Küche des Hauses. Hier und im Saal gibt es eine mächtige Butzenwand. Auch vom Lesezimmer führt eine Treppe in einen abgetrennten Teil des Kellers, der ursprünglich wohl als Vorratskammer diente. Durch einen niedrigen Zugang gelangt man wieder an den Ausgangspunkt, den Anbau.

Der Garten rund ums Haus ist klein. Ob er durch den Rückkauf eines Nachbargrundstücks erweitert werden kann, ist noch ungewiss. Die Stiftung hofft, dass es gelingen möge. Denn der geplante Bau moderner Ferienwohnungen in unmittelbarer Nähe will nicht recht zur einprägsamen Dominanz des alten Gebäudes passen.

Während die Bauarbeiten noch im Gange sind, machen sich Brons und Voß Gedanken darüber, welche Gemälde, welche Bücher, welche Objekte künftig das Haus schmücken sollen. Smidt hatte auch da bereits Vorsorge getroffen. Ebenso hinterließ er Bargeld, um das Haus weiterbauen zu lassen. Diese Summe hat die Gerhard ten Doornkaat Koolman-Stiftung mittlerweile um 50 000 Euro aufgestockt. „Ich bin wirklich froh, dass die Gremien der Stiftung das alles mitmachen“, sagt Brons.

Und während rund um das mächtige Steinhaus sich allerhand tut, steht inzwischen eines felsenfest: Am 10. Juli wird es eröffnet, um von der Ländlichen Akademie Krummhörn in Gebrauch genommen zu werden. Dieser Akt soll in der Stille stattfinden – so wie die Stiftung es im allgemeinen hält: Tue Gutes, aber rede nicht so viel darüber! Der Stolz auf das schöne Ensemble aber ist allen Beteiligten anzumerken. Schließlich erbt nicht jeder ein mittelalterliches Steinhaus und kann es einer neuen, kulturellen Nutzung zuführen.

Der Entdecker und Eigentümer des Steinhauses: Jan Smidt. Nach dem Durchputzen des Hauses soll sein Bild in einem Schrank in der Eingangshalle verbleiben und dauerhaft an ihn erinnern.