… als wenn ein Nebel sich plötzlich hebt

Das dritte Gezeitenkonzert brachte ein Klavier-Trio in die Norder Ludgerikirche

Von Ina Wagner

Norden. Das ruhig inspirierende „Schafe können sicher weiden“ aus der „Jagdkantate“ von Johann Sebastian Bach war ein maßgeschneiderter Auftakt für ein hinreißendes Kammerkonzert in der Norder Ludgeri-Kirche, das mit Stimmungen spielte. Dabei ist die Aria, die der guten Regentschaft das Wort redet, in der schmeichelnden Unmittelbarkeit der Melodiebögen ein Schatz, der sofort ins Blut ging und sich dort als Ohrwurm festsetzte.

Noah Bendix-Balgley, Claudio Bohórquez und Markus Groh vor der großartigen Kulisse des Innenraums der Norder Ludgerikirche. Bild: Karlheinz Krämer

Wie aber war es mit dem folgenden Stück, den „Moorlands“ der jungen schwedischen Komponistin Andrea Tarrodi (geb. 1981)? Es ist eine Landschaftsmalerei in Musik – zauberisch, verlockend, dann wieder kühl und karg, mal melancholisch, dann wieder sprudelnd, fremd und doch ganz gegenwärtig und nah. Man sieht förmlich vor sich, wie der Fußabdruck im nachgebenden Boden sich mit Wasser füllt, über dem die Libellen spielen. De Ostfriesen wissen, wie sich der Gang über das Moor anfühlt – und Tarrodi gelang es, diese Empfindungen so auszudrücken, dass die endlose Weite des Lande mit einem Mal Kontur gewinnt, als wenn ein Nebel sich plötzlich hebt.

Natürlich waren es die Musiker, die zwischen nacktem Notenwerk und musikalischer Präsenz die Hauptlast der Vermittlung trugen. Und diese Musiker waren Meister ihres Faches. Selbstbewusstsein kann man keinem von ihnen absprechen, denn sie alle haben ihre Meriten. Und so erschufen Noah Bendix-Balgley mit seiner historischen Violine (Carlo Bergonzi /1732), Claudio Bohórquez mit seinem noch älteren Violoncello (Giovanni Battista Roger – 1642 bis ca. 1710) und Pianist Markus Groh einen musikalischen Garten, in dem unterschiedliche Blumen blühten – alle prachtvoll, aber alle in sehr individueller Weise: der liebliche Bach, der narrative Tarrodi – und dann, als Höhepunkt – das brausende Brahms Klaviertrio Nr. 1 in H-Dur.

Voller Enthusiasmus stürzen sich die Musiker in dieser unvergleichliche Werk, das wohl jedem Klassik-Freund umfassend so bekannt ist, dass er es mitsummen könnte. Diese Popularität ist nicht ungefährlich, denn jeder Hörer hat Vorstellungen entwickelt, wie dieses mitreißende Werk klingen sollte.

Dem Trio gelang es, den Sturm und Drang des Jugendwerkes, das Brahms in späten Jahren nochmals grundlegend bearbeitete und zur heute bekannten Reife trieb, in frischer Unmittelbarkeit zu spielen und dennoch die Tiefe der emotionalen Regungen auszukosten. Dieses Spielen auf dem scharfen Grat schuf Spannungen, die den Hörer phasenweise in Unruhe trieben – und doch immer wieder wunderbar aufgelöst wurde.

Das war so brillant gespielt, dass man „den Brahms“ am liebsten gleich noch einmal gehört hätte. Doch als Zugabe gab es einen Ausschnitt aus der Aria des Anfangs. Und in diesem einen Fall muss man bekennen: der Bach war gut, aber der Brahms war besser. Und dann war das Konzert nach einer Stunde auch schon vorbei. Schade!

Insgesamt kamen 170 Gäste in zwei Partien zum gedoppelten Konzert. In normalen Zeiten würde man über solche Zahlen mitleidig lächeln würde. Aber in Corona-Zeiten galten beide Konzerte als nahezu ausverkauft.