„Heimbucher brütet noch“

Interview mit dem scheidenden Kirchenpräsidenten der Evangelisch-reformierten Kirche, Dr. Martin Heimbucher

KiE: Herr Heimbucher, welche Gestaltungsmöglichkeit hat ein Kirchenpräsident heute?

Heimbucher: Gestaltet wird die reformierte Kirche grundsätzlich nicht von Einzelnen, sondern von gewählten Gremien: von Presbyterien, von den Synoden, vom Moderamen. Der Kirchenpräsident kann aber inhaltliche Akzente setzen. Wenn es gut geht, werden seine Anregungen dann gemeinsam umgesetzt, wobei auch die Argumente anderer gehört und in den Entscheidungsprozessen aufgenommen werden.

Wie muss man sich das vorstellen?

Die Idee eines reformierten Konfi-Camps in Kloster Möllenbeck zum Beispiel wurde vom Jugendausschuss unserer Kirche aufgenommen. 2017, im Jahr des Reformationsjubiläums hatten wir ein solches Camp in Wittenberg erlebt. Ich war von vornherein ein Fan dieser Idee: 300 junge Leute lernen ihre Kirche einmal ganz anders kennen, in einer großen Gemeinschaft. Das funktioniert wie ein Kirchentag für Konfirmanden.

Martin Heimbucher am Leeraner Hafen, wo er auch wohnt. Bild: Ulf Preuss

Die reformierte Kirche ist Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Welchen Einfluss hat die EKD auf den Gestaltungsrahmen einer Landeskirche?

Die Landeskirchen gestalten ihr Leben selbständig. In der EKD werden Themen vorangetrieben, die alle Landeskirchen gemeinsam angehen: Wie verändert sich gegenwärtig die Rolle der Kirche in der Gesellschaft? Gemeinsam haben wir dort zum Beispiel die Absage an eine Judenmission beschlossen. Auch das Reformationsjubiläum haben wir bundesweit gemeinsam gefeiert. Das Verhältnis zwischen Landeskirchen und der EKD ist vergleichbar mit dem zwischen Bund und Ländern.

Sie waren selber Gemeindepastor, aber auch EKD-Referent. Welche Position war Ihnen näher?

Mein Herz schlägt für die Gemeinde. Dort geschieht das, was Kirche ausmacht: Menschen werden zum Gottesdienst versammelt und tun gemeinsam etwas Gutes. Seelsorge für die Menschen vor Ort. Bei der EKD war ich am gemeinsamen Vordenken und Koordinieren für die Landeskirchen beteiligt. Das ist eine andere Welt, ein sehr viel weiterer Horizont als in der Gemeinde. Manchmal habe ich mich gefragt: Ist das noch Kirche oder nur Politik und Verwaltung? Aber wenn es gut geht, gelingen Ergebnisse, die auch für die Gemeinden wichtig sind.

Und wie funktioniert so ein Transfer?

Die EKD hat zum Beispiel im Sommer 2020 Leitsätze zur Weiterentwicklung der evangelischen Kirche veröffentlicht. Diese wurden sogleich heftig diskutiert. Man merkte: Das war ein Papier aus der Zentrale, geschrieben von lauter „Häuptlingen“, eben: aus kirchenleitender Perspektive. Zum Schluss, nach der Diskussion auf vielen Ebenen, hat man es dann kaum wiedererkannt. Es war von vielen kritisch bearbeitet und verbessert worden. Und wir haben es dann noch einmal speziell für unsere reformierte Kirche weitergedacht.

Sie haben über den Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer promoviert. Warum?

Kirche in der Nazi-Diktatur. Das hat mich interessiert. In der Schule haben wir dazu kaum etwas gelernt. Meine Generation ist ja noch im Schatten von Krieg und Völkermord aufgewachsen. Damit musste ich umgehen lernen. Und ich wollte wissen, wie die Kirche zu diesen Abgründen der Geschichte stand. Da war Bonhoeffer herausragend mit den Antworten, die er theologisch und mit seinem Leben gegeben hat.

Dennoch ist ein solches Thema nicht selbstverständlich.

Ja. In den Promotions-Kolloquien in den 1980er Jahren hieß es sogar: Das ist noch gar keine Kirchengeschichte. Es sei zeitlich noch zu nahe. Ich war dagegen der Meinung: Doch, das ist inzwischen Geschichte. Meine Generation konnte die Geschehnisse des Nationalsozialismus nicht mehr aus Sicht der Beteiligten verstehen, sondern der Nachgeborenen.

Martin Heimbucher zwischen dem Vizepräsidenten Helge Johr und dem Präses der Gesamtsynode, Norbert Nordholt. Bild: Wagner

Muss Kirche denn politisch sein?

Die Kirche darf sich nicht einbilden, dass sie mit den politischen Verhältnissen nichts zu tun hat. Sie muss sich dazu verhalten. Aber was sie sagt, muss theologisch begründet sein. Etwa die Barmer Theologische Erklärung der Bekennenden Kirche 1934. Das war eine Notgemeinschaft, eine Minderheit, die es gewagt hat, sich im Gegensatz zur herrschenden Meinung zu positionieren. Heute verbindet uns das mit anderen Kirchen in der Ökumene. So hat die reformierte Kirche bewusst Kontakte zu kleinen Partnerkirchen geknüpft, etwa in Syrien und dem Libanon und in Belarus. Wir können in Freiheit leben und reden und müssen aus dieser Freiheit heraus etwas für bedrängte Kirchen tun.

Bewirkt man damit wirklich etwas?

Unmittelbar politisch bewirkt das nicht viel. Mit dieser Erwartung überheben wir uns. Aber der Austausch mit diesen Gemeinden ist ungemein wertvoll – für beide Seiten. Den Menschen dort bedeutet es sehr viel, dass man ihre Situation und ihr Glaubenszeugnis wahrnimmt. Ein früheres Beispiel ist Südafrika. Dort hat die reformierte Kirche den kirchlichen Kampf gegen die Apartheid unterstützt. Damals konnte man das Gefühl haben, das ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Aber in dieser Hinsicht haben wir dann ja auch in Europa Erstaunliches erlebt: Denken Sie an die Rolle der Kirche bei den friedlichen Revolutionen in Polen oder in der DDR.

Damit verknüpfen sich ja auch gesellschaftliche Fragen. Ist das typisch für die reformierte Kirche?

Ja. Die reformierte Kirche ist von Anfang an von Flüchtlingsgemeinden geprägt, z.B. in Genf, bei Johannes Calvin. Das zeigt auch unser Gedenken an die Emder Synode von 1571. Flüchtlingsgemeinden haben aus ihrer Erfahrung heraus das Gemeinwesen mitgeformt. Dort liegt eine Wurzel dafür, dass wir Kirche auch als soziale Größe verstehen – in Mitverantwortung für das gesellschaftliche Leben. Dass die Kirche gesellschaftliche Verantwortung trägt, ist kaum zu bestreiten. Aber über das Wie muss gestritten werden.

Die reformierte Kirche, das wurde ebenfalls im Zusammenhang mit der Emder Synode von 1571 deutlich thematisiert, ist anti-hierarchisch strukturiert. Gleichwohl gibt es das Kirchenamt in Leer. Wie ist das Verhältnis zwischen den Gemeinden und der Saarstraße?

Leer kann den Gemeinden nichts vorschreiben. Vor Ort müssen die Verantwortlichen selber entscheiden. Aber gerade während der Pandemie haben die Empfehlungen aus Leer aus den Gemeinden viel Zustimmung erfahren. Sie haben Orientierung gegeben. Auch bei der notwendigen Reduzierung von Pfarrstellen haben wir gelernt, dass sich Gemeinden zusammensetzen und selber gestalten müssen. Zusammenarbeit mit anderen ist unseren reformierten Gemeinden nicht in die Wiege gelegt. Darum brauchen Veränderungsprozesse Geduld und einen langen Atem. Vieles von dem, was wir jetzt zu tun haben, war bereits in den 90er Jahren in einem gesamtkirchlichen Papier vorgedacht: „Auftrag, Weg und Ziel“. Aber dieses Papier fand kaum Widerhall in den Gemeinden. Mit dem Impulsprozess der letzten Jahre – und in einer inzwischen veränderten Situation – konnten die Reform-Notwendigkeiten in anderer Weise vermittelt werden.

Sie sind Kirchenpräsident seit 2013. Wie hat sich diese Zeit auf Sie persönlich ausgewirkt?

Es war ein spannender Lernprozess, mich in dieses Amt einzufinden. „Kirchenpräsident der reformierten Kirche“ kann man ja nirgends studieren. Also hieß es: Learning by doing. Es war ein Prozess des Einspielens – für mich und andere. Und ich bin froh und dankbar, dass es insgesamt gut gegangen ist.

Martin Heimbucher nach der Wahl 2013 in Emden. Sein Vorgänger, Jann Schmidt, gratuliert.

Gab es Zweifel?

Ja. Es erfordert durchaus Mut, ein solches Amt zu übernehmen. Aber ich hatte auch Glück. Vor etwa 15 Jahren hat unsere Landeskirche die Erfahrung einer existenzbedrohenden Finanzkrise gemacht. Ich aber konnte in einer Zeit arbeiten, in der die Kirchensteuereinnahmen zugenommen haben. Das konnte niemand vorhersehen. Und aus Erfahrung gewarnt, konnten wir mit diesen Mitteln nachhaltig wirtschaften. In dieser Hinsicht hatte ich bessere Voraussetzungen als mein Vorgänger Jann Schmidt.

Was hat denn den Ausschlag gegeben, dass Sie zugesagt haben?

Das Moderamen hatte für das Bewerbungsverfahren einen Ausschuss eingesetzt. Und der hat nicht locker gelassen. In dieser Zeit erreichte mich eine fehlgeleitete Mail, in der stand: „Heimbucher brütet noch“. Es ging ja auch um die Familie, die aus Göttingen nach Leer ziehen musste. Aber wir fühlen uns jetzt in Ostfriesland so wohl, dass wir hier bleiben werden.

Was hinterlassen Sie Ihrer Nachfolgerin, Susanne Bei der Wieden?

Jedenfalls keine Ratschläge! Das Arbeitsfeld ist herausfordernd, aber auch schön und lohnend. Es macht Freude, im Kirchenamt in der Saarstraße zu arbeiten. Es ist im Vergleich ein kleines Haus und wer Verantwortung trägt, muss Themenbereiche abdecken, mit denen sich in größeren Kirchen ganze Abteilungen beschäftigen. Man muss also in vielen Bereichen fit sein, hat aber auch entsprechend große Handlungsspielräume. Die Wege sind kurz, die Entscheidungsfindung geht oft sehr schnell. Als eine der ersten Landeskirchen haben wir uns so der Initiative zur Unterstützung der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer angeschlossen

Wie erleben Sie Ihre letzten Tage im Amt, und was kommt dann?

Ich nehme jetzt an vielen „letzten Sitzungen“ teil und bekomme auch Anfragen, ob ich nicht dieses oder jenes weitermachen möchte. Aber ich möchte einen klaren Schnitt. In jedem Fall werde ich mich aus den Bereichen heraushalten, in denen ich im Amt aktiv war. Wofür ich mich in meinem Ruhestand engagiere, möchte ich in aller Freiheit entscheiden.

► Der Leitende Theologe und Verwaltungschef des Landeskirchenamtes in Leer wird im Rahmen eines Gottesdienstes am 16. Juli in der Großen Kirche zu Leer verabschiedet. Da nur eine begrenzte Besucherzahl zugelassen ist, bietet die Kirche auf der Webseite www.reformiert.de ab 14 Uhr eine Übertragung als Stream an.

Martin Heimbucher
– geboren 1955 in Regensburg
– Abitur in Kassel
– Studium 1975 bis 1982 in Göttingen und Mainz
– Promotion: in Göttingen über Dietrich Bonhoeffer
– Beruf: 1985 bis 1990 Vikar und Pfarrvikar der Lippischen Landeskirche
– 1991 bis 1999 Gemeindepastor in Leopoldshöhe im Kreis Lippe
– 2000 bis 2006 Pfarrer in Eddigehausen
– ab 2007 Theologischer Referent der Union Evangelischer Kirchen in der EKD
– seit 2013 Kirchenpräsident der Evangelisch-reformierten Kirche