Ein ungeheuerliches Erbeben

Die Gezeiten Nr. 4 fanden als Orchesterkonzert mit Solistin im Theater an der Blinke statt

Von Ina Wagner

Leer. Was ist heute schon normal? Das fragte Landschaftspräsident Rico Mecklenburg in seiner kleinen Eröffnungsansprache zum vierten Gezeitenkonzert im Theater an der Blinke in Leer. Er meinte Corona und die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen. Doch zugleich nahm er vorweg, was das Publikum eineinhalb Stunden später empfand. Dieses Konzert war definitiv nicht „normal“, sondern ganz entschieden eine Klasse für sich.

Konzentriert: Dirigent Daniel Beyer und Violinistin Arabella Steinbacher. Bilder: Karlheinz Krämer

Und das bezieht sich auf das Württembergische Kammerorchester Heilbronn, die Geigerin Arabella Steinbacher, den Dirigenten Daniel Beyer und das Programm gleichermaßen. Fangen wir mit letzterem an. Bach, Dvorak, Pärt und Respighi an einem Konzertabend. 18., 19. und 20. Jahrhundert – ohne Pause? Das war entschieden mutig, aber das verbindende Element war eine Energie, die alle Werke ausströmten, die Atmosphäre eines geradezu archaischen Wissens um Grundbefindlichkeiten, die Menschen verbindet: Lebenskraft, Lebensdauer, Lebenskampf, Lebensfreude – all das wurde in der Musik umgesetzt.

Interessanterweise wurde dabei das Werk des jüngsten Komponisten, Arvo Pärt, „Fratres“, zum Highlight des Abends. Schon der Beginn mit den kraftvollen Bogenstrichen der Solistin war atemberaubend. Es dokumentierte sich in der Folge ein sensitives Erspüren der Stimmungen, der Ausbrüche, des Aufbegehrens, des Ausklingens. „Brüder“ wurde somit zu einem Fixpunkt des Konzertes, sensationell gespielt von Arabella Steinbacher und dem Württembergischen Kammerorchester Heilbronn und seinem Schlagzeuger.

Exzellent: das Württembergische Kammerorchester Heilbronn.

Dieses Orchester wurde viele Jahre lang – natürlich nur insgeheim – als „Emder Hausorchester“ bezeichnet, weil es regelmäßig in der Seehafenstadt zu Gast war – sowohl unter seinem legendären Gründer Jörg Faerber als auch unter dessen charismatischem Nachfolger, Ruben Gazarian. Daniel Beyer setzte die Reihe der individuellen Orchesterleiter fort. Sein verhaltenes Dirigat war es nicht, was ihn so sympathisch wirken ließ, sondern vielmehr war es der spürbar respektvolle Umgang mit Orchester und Solistin, der ihn kennzeichnete – ganz ohne Worte.

Und als er nach dem Ende des offiziellen Konzertes doch das Wort ergriff und humorvoll ansetzte: „Was wäre ein Menü ohne Nachtisch?“, da wurde deutlich, dass die Zugabe sich nahtlos in die Folge des wohlbedachten Programms eingliedern würde. Und in der Tat erlebten die rund 170 Zuhörer einen ergreifenden Abschluss. Die Solistin kam noch einmal auf die Bühne, und es war – Bach. Was sonst? Aus dem Violinkonzert E-Dur, BWV 1042, erklang der Mittelsatz – in einer solch bestechenden Eleganz, dass das Publikum hingerissen war. Langer Applaus, „Danke!“-Rufe aus der Hörerschaft sorgten schließlich für einen begeisterten Abschluss des Konzertes.

Bach bildete auch den Auftakt des Konzertes – mit dem Violinkonzert a-Moll, BWV 1041, umgesetzt mit spürbarem Einklang zwischen Orchester und Solistin, so dass eine mustergültige Interpretation vorbildlich festgeschrieben wurde.

Dvoraks „Larghetto“ aus der Serenade E-Dur war ein vom Orchester fein herausgearbeitetes Stück von prachtvoller Reife und Schönheit. Und in der Tat gaben die Musiker der romantischen Leichtigkeit nach, strichen die Melancholie mit zartem Ansatz hinfort und erreichten eine überzeugende Wirkung. Einfach herrlich anzuhören.

Ottorino Respighis „Antiche Danze ed Arie“ sind wie ein Rückgriff auf historische Zeiten, reich an schmeichelnden Melodien. Somit bildete sich wahrlich ein geschlossener Kreis. Die Bach-Zugabe vollendete nicht nur den Anfang des Konzertes, sondern auch Respighis „alte“ Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts führte wieder in die barocke Zeit zurück.

Eine grandiose Konzertkonzeption, die ein ungeheuerliches inneres Erbeben zur Folge hatte. Nun ja, wenn solch eine fantastische Solistin auf ein inspirierendes Orchester und einen ebenso engagierten wie behutsam agierenden Dirigenten trifft, steht einem glücklichen Abend wirklich nichts mehr im Wege.