Abenteuer aus der Schatzkiste

Das 10. Gezeiten-Konzert in der Stadthalle Aurich brachte ein Füllhorn von Überraschungen

Von Ina Wagner

Aurich. Da blieb einem tatsächlich die sprichwörtliche Spucke weg vor Staunen. Und jeder, der dieses Konzert nicht erlebt hat, wird sich ärgern – und das ganz fürchterlich. Denn in der reichen Musikwelt, die Jahr für Jahr in Ostfriesland zu erleben ist, dürfte sich dieses Konzert in den Ordner „ungewöhnlich und außerordentlich“ einstellen.
Was aber war so staunenswert? Eigentlich alles an diesem Abend!

1. Das Orchester. Die Deutsche Streicherphilharmonie ist ein Jugendorchester, in dem rund 70 Akteure zwischen elf und 20 Jahren spielen. Dieses jugendliche Alter merkt man ihrer Musikgestaltung aber keineswegs an. Unter der offensichtlich sehr einfühlsamen Leitung ihres Chefdirigenten Wolfgang Hentrich agierten die jungen Instrumentalisten selbstbewusst und sicher.

Einfühlsam: Dirigent Wolfgang Hentrich mit seiner Deutschen Streicherphilharmonie. Bilder: Karlheinz Krämer

2. Das Programm. 20. Jahrhundert von vorne bis hinten. Hentrich stellte fest, dass man sooo ein Programm vor einigen Jahren noch nicht hätte anbieten dürfen. Aber sooo schrecklich sei die zeitgenössische Musik doch gar nicht? Nein, sie war nicht schrecklich, sondern zum Teil sehr bekannt, zum anderen ausgesprochen aufregend, anregend und spannend.

So erklang gleich zu Beginn Benjamin Brittens „Simple Symphonie“ für Streichorchester mit dem hinreißenden „Playful Pizzicato“, das auch genauso hinreißend umgesetzt wurde. Barbers melancholisch ruhiges, gemessenes „Adagio for Strings“ bannte das Publikum derart, dass sich nach Beendigung des Stückes eine lange Pause vollkommenen Schweigens ausbreitete.

Homogener Klang: Blick in den Block der Violinisten.

Das Adagio korrespondierte bestens mit Wojciech Kilars „Orawa“ von 1986, das von musikalischer Reduktion lebt. Rhythmische Motive werden aufgeworfen, wandern durch das Orchester, werden in Kleingruppen aktiviert und vervollständigen sich ab und an zum Gesamtklang des Orchesters. Eine unglaubliche Konzentrationsleistung des jungen Streichorchesters, dem die Komposition ganz offensichtlich zusagte – dem Publikum aber anscheinend auch, denn es gab sehr viel Beifall.

3. Der Solist. Alexej Gerassimez ist ein Percussionist, der bereits seit 2013 immer wieder zu Gast bei den Gezeiten ist. Er demonstrierte beim „Konzert für Marimbaphon und Streichorchester“ von Ney Rosauro seine virtuosen Qualitäten auf diesem Stabspiel. Mit großer Wendigkeit und Exaktheit wurden die komplizierten Klangwerte mit zwei bis vier Schlägeln unterschiedlicher Härtegrade umgesetzt. Begleitet wurde Gerassimez von der Streicherphilharmonie, die auch bei der Komposition des brasilianischen Komponisten keine Berührungsängste zeigte. Kam man bei diesem Konzert schon ins Staunen, so erst recht bei der Zugabe, die im 20 Uhr-Konzert auf dem Programm stand. Der junge Musiker zeigte nämlich, welche rhythmische Vielfalt er einer Snare Drum zu entlocken vermag. „Asventuras“ hat er seine Eigenkomposition benannt, die mit und um die Snare Drum gespielt wurde. Ein eindrucksvolles Kabinett-Stück, das viel über den Einfallsreichtum des Solisten verrät.

Konzentration am Marimbaphon: Alexej Gerassimez

4. Die Orchester-Zugabe. Poco Insanimus („Ein bisschen verrückt“) ist der Titel eines Auftragswerkes, das der Komponisten Dietrich Zöllner für die Streicherphilharmonie umsetzte. Und die Präsentation dieses Werkes sorgte in Aurich nun endgültig für tosenden Beifall. Denn die Musiker zeigten sich als lustvolle Interpreten eines ungewöhnlichen Werkes, in dem sie auch als Summ-Chor eingesetzt wurden. Einfach wunderbar! An diesem Abend konnte man nun wirklich das Gefühl haben, als wenn ein musikalisches Abenteuer nach dem anderen aus einer Schatzkiste gezogen und den Zuhörern geschenkt wird.