Musik als das Band des Universums

Serie: Verborgene Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 1

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. „Eru war da, der Eine […], und zuerst erschuf er die Ainur, die Heiligen, die Sprösslinge seiner Gedanken: und sie waren bei ihm, bevor irgendetwas geschaffen war. Und er sprach zu ihnen, indem er sie Melodien lehrte, und sie sangen vor ihm. Und er war froh. Lange sangen sie nur jeder für sich allein oder zu wenigen, während die anderen lauschten. […]“

Weltschöpfung aus Musik, das Universum der Raum, der angefüllt ist mit Klängen. Erdacht hat diesen Mythos der englische Philologe und Schriftsteller John Ronald Reuel Tolkien (1892–1973), weltbekannt geworden durch den Anfang des Jahrtausends verfilmten Roman „Der Herr der Ringe“.

Auch der Verfasser des Buches, das aus den verborgenen Schätzen der Johannes a Lasco-Bibliothek hier einmal aufgeblättert werden soll, kannte eine solche Vorstellung. „Die Platoniker behaupten“,

Michael Weichenhan mit der Abhandlung über die Musik der Antike von Lambert Alard.

so beginnt Lambert Alard (1602 bis 1672) seine Abhandlung über die Musik der Antike, „De veterum musica“ (Schleusingen 1636), „die Himmelsseele, von der das Universum beseelt wird, habe ihren Ursprung aus Musik genommen.“

Bei dem griechischen Philosophen Platon ertönte zwar kein Gesang, der die Leere erfüllte und aus dem dann mit der Zeit die materiellen Körper entstanden. Aber die Weltseele, die ein wenig an das erinnert, was wir heute als die vier Grundkräfte des Universums begreifen, stellte er sich in Proportionen geteilt vor. Und die wiederum sind diejenigen, die auch die musikalischen Intervalle bilden. Deshalb ist die sichtbare Welt vom kleinsten Teil bis hinauf zu den Himmelskörpern harmonisch. Ob sie dabei klingt, wissen wir natürlich nicht. Aber die von uns erzeugten Klänge des Gesanges und der Musikinstrumente sind Teil dieses harmonischen Zusammenhanges.

Als der aus Krempe in Holstein stammende Lambert Alard sein Buch verfasste, gehörte die Idee von dem alles umspannenden Charakter der Musik noch zum allgemeinen Wissensbestand. Den Komponisten jener Zeit, Heinrich Schütz, später Johann Sebastian Bach, aber selbst noch Wolfgang Amadeus Mozart, war sie vertraut; das musikalische Handwerk, das sie erlernten, baute auf diesen Grundlagen auf. Musik in diesem Sinne hatte viel mit Mathematik zu tun, im Grunde war das, was die Ohren erreichte und Gefühle wie Freude, Jubel und Schmerz auslöste, nichts anderes als klingende Mathematik.

Dass Töne den Menschen erreichen, also gleichsam in seine Seele eindringen und dort bestimmte Emotionen auslösen, galt als Bestätigung der Annahme, die gesamte Welt sei nach ein und denselben Prinzipien aufgebaut. Als Hörer von Musik erlebt der Mensch unmittelbar, dass er Teil der Welt ist, nicht nur deren Beobachter.

Für Alard war die Beschäftigung mit den antiken Fundamenten der Musik nicht nur eine gelehrte Fingerübung. Zweifellos war das kein nebensächlicher Gesichtspunkt, wie die seinen Ausführungen angefügte Edition samt lateinischer Übersetzung des Musiktraktats des byzantinischen Philosophen Michael Psellos († um 1078) zeigt. Aber der Gelehrte, der zugleich ein mit dem Lorbeerkranz gekrönter Dichter war, wusste auch, dass die Musik seiner Zeit ganz eigene Wege ging.

Die antike Musiktheorie spielte zwar nach wie vor eine Rolle, aber allmählich verschwand sie hinter jener prächtigen Musik, die wir als „Barockmusik“ bezeichnen. Die Musik, die Alard und seine Zeitgenossen hörten, sprach weniger den rechnenden Geist an, sondern richtete sich direkt an die Gefühle; aus der alten música wurde, nach dem französischen «la musique», die Musík ‒ ein Klangereignis. Nicht alle sahen das gern. Denn es schien den großen Zusammenhang zu verdunkeln, den die Musik einst hergestellt hatte, die Verbindung des ganzen Menschen mit dem nach Maß und Zahl geordneten Kosmos.

Die Entwicklung der Musik haben solche Bedenken kaum beeinflusst. Und dass sogar die Ideen, die hinter den antiken Auffassungen über die Stellung und die Unverzichtbarkeit der Musik standen, nach wie vor lebendig sind, zeigt nicht zuletzt das eingangs angeführte Zitat aus Tolkiens „Silmarillion“, einer Sammlung unveröffentlichter Werke, die sein Sohn Christopher 1977 posthum herausgab.