Anleitungen, sich seines Verstandes zu bedienen

Eine kritische Würdigung des Buches von Jürgen Habermas: „Auch eine Geschichte der Philosophie“ in fünf Schritten

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Wenn man ein philosophisches Buch empfiehlt, noch dazu eine Art Philosophiegeschichte, muss man dafür gute Gründe haben, ganz besonders dann, wenn dieses Buch von Jürgen Habermas „Auch eine Geschichte der Philosophie“ auch noch einen stattlichen Umfang von über 1700 Seiten hat.

Es gibt sie, die guten Gründe, das Buch zu lesen, oder wenigstens in diesem Buch zu lesen, auch für diejenigen, die keine speziellen Interessen an der Philosophie und ihrer Geschichte haben. Denn Jürgen Habermas (geboren 1929) blickt auf die Denkgeschichte der Vergangenheit, die wir Philosophie nennen und die bis ins 6. Jahrhundert vor Christus zurückreicht, nicht wie ein Historiker, der möglichst sorgfältig das Vergangene rekonstruiert. Vielmehr sieht er sie mit den Augen des Sozialphilosophen, der entscheidende Impulse beispielsweise dem Marxismus verdankt, dessen Interessen fast ausschließlich der Moderne galten, der sich schließlich in zahlreichen politischen Debatten zu Wort meldete – übrigens nicht immer zur Freude derer, die ihn als Philosophen schätzten und schätzen.

Jürgen Habermas „Auch eine Geschichte der Philosophie“ ist bei Suhrkamp erschienen. Bilder: JaLB

Provokation und Konfrontationen hat er nicht gescheut. Man könnte sagen, der Philosoph Habermas habe nie das weltabgeschiedene Studierzimmer des Gelehrten in gedämpftem Licht bewohnt, sondern gleichsam ein Büro eines Hochhauses, dessen Glaswände die Beobachtung des Geschehens auf den Straßen und Plätzen der Großstadt ermöglichen und dazu einladen, sich dort einzumischen.

Beabsichtigt ist hier keine „Empfehlung“ im Sinne einer Rezension, einer Übersicht über die behandelten Themen samt kritischer Würdigung. Wenn von Gründen die Rede ist, die es als lohnend erscheinen lassen, sich in dieses Werk zu vertiefen, werden es solche sein, von denen der Autor dieser Zeilen nur hoffen kann, dass sie auch halbwegs plausibel erscheinen. Denn es sind nur einige seiner Eindrücke, die er mitteilt, seine Erfahrungen bei der Lektüre, von denen er erzählt – Eindrücke, die in gewisser Weise denen gleichen, die man zum besten gibt, wenn man von einer Reise durch ein fernes Land berichtet.

Heraus kommt dabei keine objektive Beschreibung des Landes, sondern eine Reihe von erinnerten Erlebnissen, eine Abfolge dessen, was man als interessant, als erstaunlich und faszinierend empfunden hat. Es liegt an der Entscheidung der Zuhörer, ob sie das, was ihnen da vorgetragen wird, als interessant empfinden, eventuell in einem solchen Maße, dass sie sich dann sogar dazu entscheiden, selbst jene Gegend aufzusuchen – bzw. in unserem Fall, sich zur Lektüre verleiten lassen.

1. Habermas hat dieses Alterswerk dem Problem des Verhältnisses von „Glauben und Wissen“ gewidmet. Das ist insofern erstaunlich, als Habermas sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet hat, also als jemand, dem religiöse Äußerungen gleich welcher Art fremd sind. Anders als bei Büchern, in denen ein in die Jahre gekommener Autor mit freundlicher Altersmilde sich der entschwundenen Welt des Zaubers der lateinischen Messe oder eines mutigen Geistlichen erinnert, der den Nationalsozialisten die Stirn zu bieten gewagt hatte, spielen Erinnerungen an eine von christlichen Lebensformen geprägte Kindheit und Jugend keine Rolle: nicht im Guten, aber auch nicht im Sinne der schlechten Erfahrungen, der Enttäuschungen und erlittener Verletzungen, die man sich im Alter mit Groll ins Gedächtnis zurückruft.

Die Religion, der Habermas entstammt, der Protestantismus, bestimmt seine Reflexionen über das Verhältnis von „Glauben und Wissen“ in keiner Weise. Habermas spricht über Religion nicht als Beteiligter, nicht einmal als engagierter Beobachter, sondern als ein Philosoph, der ihr ein gewisses, rein sachliches Erkenntnisinteresse entgegenbringt. Insofern dürfte sich seine Sichtweise als ausgesprochen zeitgemäß erweisen, als die meisten von uns mindestens vom Christentum keine starke Prägung mehr erhalten haben.

Auch für den, der noch einer der Kirchen angehört, bedeutet sie nur noch selten die Lebensvollzüge bestimmende Kraft, sondern ein Freizeitangebot, die Möglichkeit einer gelegentlichen Unterbrechung des Alltags, von der mit der Erwartung an eine freundliche ‒ unter Umständen auch feierliche ‒ Atmosphäre Gebrauch gemacht wird.

Religion ist auf den Bereich des Privaten beschränkt, die Zugehörigkeit zu ihr zur Schau zu stellen, löst Verwunderung, wenn nicht gar Befremden aus. Glaube bzw. Religion führen in der Welt, in der wir leben und die man die „säkulare“ Welt nennt, eine Existenz am Rande. Gerade deshalb erscheint es interessant, was einen selbst zutiefst säkularen Denker dazu motiviert hat, sich mit dieser aus der Vergangenheit stammenden und in die Gegenwart nur noch schwach hineinragenden Erscheinung zu befassen.

Der „Dictionnaire historique et critique“ (Historisches und kritisches Wörterbuch) des Philosophen Pierre Bayle (1647 bis1706) zählt zu den wichtigsten und erfolgreichsten Buchprojekten der Aufklärung, in dem gegen Fanatismus und Aberglauben und für ein tolerantes Christentum votiert wird.

2. Habermas verfolgt in seinem Buch eine über 2500jährige Geschichte, die Geschichte des Verhältnisses zwischen „Glauben und Wissen“, die mit der Entstehung monotheistischer Religionen und der Philosophie begann und bis in unsere Zeit andauert. Es geht um die Erzählung einer spannungsvollen Beziehung, man könnte sagen, eines Konfliktes. Allerdings werden die, die erwarten, mit Berichten über das angeblich so finstere Mittelalter, über Fortschrittsfeindlichkeit und den zeitweiligen Triumph des Glaubens über das Wissen versorgt zu werden, enttäuscht. Habermas erzählt diese Geschichte jenseits von Besserwisserei der Nachgeborenen; der Konflikt, der über die Jahrhunderte die unterschiedlichsten Formen angenommen hat, gleicht nicht dem Kampf zweier feindlicher Armeen, sondern eher dem Wettstreit der Instrumente in einem Konzert oder den gegensätzlichen Themen einer Sonate.

Wie bei jeder Erzählung wird die Vergangenheit aus der Perspektive des Rückblicks in den Blick genommen; eine Geschichte erklärt, wie es dazu gekommen ist, dass irgendein Ereignis oder ein Zustand eintrat. Sich so dem Verhältnis von Glaube und Wissen zuzuwenden, heißt deshalb, davon zu erzählen, wie das weitgehend religionslose, das eben säkulare Weltverständnis entstanden ist. Seit sehr langer Zeit ist kein Buch mehr erschienen, in dem das Wagnis unternommen worden ist, diese riesige Vergangenheit in Form einer weit verzweigten Geschichte zu erzählen. Wer sich über die Geschichte des philosophischen und theologischen Denkens informieren und dabei etwas erklärt bekommen möchte, was über historisches Spezialwissen hinausgeht, dürfte derzeit nichts besseres finden.

3. „Glaube und Wissen“, das Grundthema der beiden Bände, das Habermas in einer langen Reihe von Erscheinungen verfolgt, beispielsweise dem Aufeinandertreffen der Offenbarungsreligionen und der griechischen Philosophie, den Versuchen der Synthesen und der Zuordnungen in der Spätantike, im Mittelalter, der Reformation, der Aufklärung, der Philosophien Kants und Hegels und schließlich der kritischen Denker, die den prächtigen Bau des hegelschen Systems schließlich zum Einsturz brachten, diese Themenstellung verdankt sich der Gegenwart. Nicht dass es in vergangenen Epochen keine vergleichbaren Problemstellungen gegeben hätte.

Aber am Anfang des 21. Jahrhunderts hat es für Habermas entschieden an Brisanz gewonnen. Denn beide Seiten stehen nicht mehr auch nur noch annähernd in einem konkurrierenden Verhältnis. Das, was einst „Wissen“ genannt wurde, macht in unserer Welt die Gesamtheit jenes säkularen Denkens aus, der theoretischen und praktischen Deutungen der Welt, der Gesellschaft, des Rechts, nicht nur der Wissenschaften. In dieser Gesamtheit kommen nicht nur keine übernatürlichen Gründe zur Erklärung von Sachverhalten mehr vor; es gibt auch keine „höhere“ bzw. keine rettende Gerechtigkeit. Die einstigen Hoffnungsbilder der Bestrafung erfolgreicher Übeltäter in einer Hölle und der Belohnung gescheiterter Gerechter in einem Paradies sind vollständig verblasst.

Mitmenschlichkeit, Rücksicht und selbstloses Handeln lassen sich durch kühles Berechnen von Vor- und Nachteilen weitgehend ersetzen. Das Thema des Verhältnisses von Glaube und Wissen stellt sich für den Philosophen angesichts des Triumphes des säkularen Wissens deshalb als Frage, inwieweit die religiösen Traditionen als ein schätzenswertes Erbe akzeptiert und sich in säkulare Inhalte überführen lassen. Das erscheint schon angesichts gewisser Tendenzen, die Vergangenheit von allem, was gerade als unpassend gilt, zu säubern und Beziehungen zwischen Menschen über bestimmte biologische Eigenschaften zu regeln, als bedeutsam.

In der 1794 in zweiter Auflage erschienenen Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ versuchte Immanuel Kant (1724-1804) das Christentum rational zu rekonstruieren.

4. Habermas macht dem „Eigensinn des Religiösen“ keinerlei Zugeständnisse. Die Beschränkung der Religion auf einen staatlich gehegten Bereich privater Überzeugungen in staatlichem Recht unterworfenen Institutionen gilt als so gut begründet, dass grundlegende Veränderungen kategorisch abgelehnt werden. Dies nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene, auch im Blick auf die Organisation der Weltgemeinschaft hält Habermas das zuerst in Europa unter bestimmten historischen Bedingungen ausbildete Verhältnis zwischen dem Heils- und dem Weltwissen langfristig für das einzige erstrebenswerte Modell.

Die Gewissheit, dies werde auch gelingen, ist nicht nur dem Optimismus Habermas’ zuzuschreiben, dass sich gut begründete, also rationale Argumente gewaltfrei auf Grund von Einsicht gegen weniger gut begründete durchsetzen. Der Rückblick auf die über 2500jährige Geschichte jenes „Konzertierens“ zwischen Glauben und Wissen dient ja vor allem dem Nachweis, dass dies im europäischen Geschichtsraum bereits Realität geworden ist. Dabei wird die Säkularisierung des Heilswissens nicht allein als Sieg einer Seite über die andere angesehen, sondern auch als von der Religion selbst in Gang gesetzter Prozess lernender Aneignung.

5. Ob man den Auffassungen Habermas’ nun weitgehend zustimmt oder nicht ‒ die Streifzüge des Gegenwartsphilosophen durch die Vergangenheit und die Überlegungen, die daran für die Ausbildung eines vernünftigen Verhältnisses zu den Prozessen der Gegenwart geknüpft werden, sind keine trockene Philosophie, nicht träumerische Wolkenschieberei, sondern Anleitungen, sich seines Verstandes zu bedienen, wie Kant einst meinte. Und das ist die Aufgabe, die sich zu jeder Zeit von neuem stellt.

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt „Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.

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