„Lieblich, das ist nicht mein Ding“

Grimersum. Sie stammt aus Schlesien und hat Flucht und Vertreibung in eisiger Kälte erlebt, als sie ein kleines Kind war. Helga Beisheim (Jahrgang 1942) ist ein zurückhaltender Mensch. Der Blick zurück erfolgt ohne spürbare Emotionen. Das ändert sich beim Gespräch über ihre Kunst, die von Reife und Erfahrung geprägt ist, und die dennoch so unkonventionell ist wie ihr Haus am Grimersumer Altendeich, das sich aus verschiedenen Bauteilen zusammensetzt, so, als sollte es ein Spiegel ihres Lebens sein – immer wieder Neues, immer wieder etwas ausprobiert und dennoch in sich schlüssig. Konfrontiert mit dem scharfen Wind und dennoch geschützt, duckt sich das Haus an den alten Schlafdeich. Zugleich gewährt es einen unglaublichen Blick über die anliegenden Felder, fast bis zum Horizont, unverbaubar. Auch von ihrem Atelier aus bietet sich dieser enorme Blick in die Weite des Landes.

Drinnen – im Atelier – herrscht perfekte Ordnung, die in bestrickendem Gegensatz zur ungebärdigen Natur vor der Tür steht. Dennoch hat man den Eindruck, dass sich innen und außen verbinden und zu dem Leben der Künstlerin passen. Große Grafikschränke nehmen vielerlei Kunst auf. An den Wänden bieten sich pastellfarbene Farbverläufe auf handgeschöpftem Papier – wandhoch gestaffelt – als Blickfang an. Dann wieder fällt das Auge auf graue Farbklekse auf weißem Papier, die sich zu vielgestaltigen „Monstern“ verdichten. Work in progress. Sie arbeitet noch an der Fortführung dieses großformatigen Bildobjektes.

Im lichten Atelier mit den zahlreichen Grafikschränken und vielfältigen Arbeitsmaterialien ist das Zentrum der künstlerischen Arbeit von Helga Beisheim.

Helga Beisheim kam 1977 nach Ostfriesland. Auf der Suche nach einem Ferienhaus wurde sie in Grimersum fündig. Damals lag ihr Lebensmittelpunkt in Bochum. Dort hat sie auch studiert. Gearbeitet hat Helga Beisheim viel – für ihre Kunst, aber auch für das, was man Oral History nennt. So erarbeitete sie die Dorfgeschichte von Marienhafe und Wirdum, übernahm 1993 die Leitung der Kunstschule Norden, suchte Kontakte zu anderen Künstlern über die Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel. Immer war und ist sie bestrebt, auf dem neuesten Stand der künstlerischen Entwicklung zu sein und zu bleiben. Und immer blieb sie selber künstlerisch tätig – nicht nur im Bund bildender Künstler in Ostfriesland, sondern auch im Bochumer Künstlerbund, dem sie bis heute die Treue hält.

Ihre Arbeiten sind von einer Zeitlosigkeit, die alterslos wirkt. Immer geht der Blick voraus, nie zurück. Gerade befasst sie sich mit Strukturen, die durch Schraffierungen entstehen und durch Verdichtungen und Lockerungen zu flirrenden Bewegungen innerhalb des Blattes führen. Vertraute Sehgewohnheiten zu erweitern – das ist das Ziel ihrer Arbeit.

Schon einige Mal hat Helga Beisheim an Wettbewerben teilgenommen. Zuletzt gehörte sie zu den Nominierten des von den „Freunden der Wilhelmshavener Kunsthalle“ ausgeschrieben Preises für Nordwestkunst. Insgesamt 25 Künstler waren in die Auswahl genommen und in einer gemeinsamen Ausstellung präsentiert worden. Helga Beisheim teilte sich eine Koje unter anderem mit der gebürtigen Japanerin Noriko Yamamoto (52), und sie ist begeistert, wie harmonisch ihrer beider Arbeiten in der Vergesellschaftung wirkten. „Das passt“, befindet Helga Beisheim.

Inzwischen ist der Wettbewerb abgeschlossen. Die Sieger stehen fest. Helga Beisheim hat nicht gewonnen. Für sie war die Teilnahme an der Nordwestkunst wichtiger als ein Sieg. Sie wisse aus Erfahrung, wie schwer es sei, überhaupt nominiert zu werden. „Das ist geschehen, mehr ist nicht drin. Ich kenne die Mechanismen.“

Mit diesen Arbeiten hat Helga Beisheim an der Nordwestkunst 2021 teilgenommen. Bild: Ricardo Nunes

Helga Beisheim liest viel Fachliteratur und Magazine, um sich auf dem aktuellen Stand zu halten. Aus demselben Grund ist sie unterwegs, um Ausstellungen zu besuchen. „Man muss ja frisch bleiben.“ Doch nicht nur die Biennale in Venedig oder andere große und kleinere Veranstaltungen sind dabei ein Ziel für sie. Erst vor wenigen Tagen war sie wieder einmal im Ostfriesischen Landesmuseum und hat ihrem Lieblingsbild, den „Vorsteherinnen des Gasthauses“ einen Besuch abgestattet, aber auch den Porträts von Henrich Becker, die sie wegen ihrer Schlichtheit besonders schätzt.

Parallel dazu arbeitet Helga Beisheim selber intensiv weiter. So berichtet sie von einem Projekt, bei dem sie ihre Schuhe auf unterschiedlichsten Untergründen fotografiert hat – ein Jahr lang, 365 Tage. Dabei war es die eigentliche Herausforderung, den Rhythmus durchzuhalten und den selbst erteilten Tagesauftrag nicht womöglich einmal zu vergessen. Zu den Bildern, die dabei entstanden sind, gehört auch ein Foto, auf dem sie ihre Hausschuhe auf einem Stück Teppichboden abgelichtet hat, der nach einem Entwurf des amerikanischen Minimalisten Sol LeWitt entstand und den Untergrund im Foyer des Neuen Theaters in Emden bedeckte. Dieses Motiv, so sagt Helga Beisheim, habe sie sich natürlich nicht entgehen lassen können.

Jeden Tag ein paar Schuhe auf einem anderen Untergrund fotografieren – das war ein Projekt, das Helga Beisheim 365 Tage lang beschäftigte. Ihre Hausschuhe auf einem Stück Teppichboden aus dem Foyer des Neuen Theaters abzulichten, gehörte auch dazu.

Ein anderes Projekt, dass sie nicht losließ, hing mit dem Fällen von Bäumen zusammen – ganz in der Nähe ihres Wohnortes. Da stand sie nun, blickte auf die gefallenen Riesen und entwickelte sofort eine Idee, wie sie den Bäumen Dauerhaftigkeit verschaffen könnte. Sie besorgte sich große Papierbögen und begann, die Schnittfläche der insgesamt 48 Bäume mittels Frottage abzureiben. Es war Winter, es war kalt, aber sie schaffte es tatsächlich, jeden Baumstumpf zu bearbeiten. Um einen Überblick zu erhalten, legte sie die durchnummerierten Papiere in der Emder Nordseehalle aus – und fügte sich selber als 49. Element in die gesamte Installation hinzu – stark wie ein Baum, sensibel wie die unzähligen Jahresringe, die von Werden und Vergehen eines lebendigen Wesens künden.

Ihre Kunst ist spröde oder besser: Sie ist in ihrer Abstraktheit distanziert. Man muss sich einsehen und hineindenken. Dann aber erschließt sich ein vielschichtiges Leben. Die Formen scheinen sich zu bewegen, Kontakt zum Betrachter aufzunehmen, ihn ebenso zu mustern wie er, der Betrachter, sie. Und mit einem Mal erkennt man: Es geht nicht um Linien, Farbwerte oder um die Suche nach Schönheit. Es geht vielmehr um Wesentliches, um den Kern einer Aussage, um das Innerste. Das aber hat nichts mit Innerlichkeit zu tun. Oder, wie Helga Beisheim selber sagt: „Lieblich, das ist nicht mein Ding!“