Nichts als Bücher

6. Teil

Emden.
Das Buch hat heute immer noch einen hohen Stellenwert. Daher sind Empfehlungen für bestimmten Lesestoff eine Leidenschaft der Mitglieder der „Gesellschaft der Freunde der Johannes a Lasco Bibliothek“. Vorstandsmitglied Klaus Frerichs (JaLB) sammelt diese zumeist kurzen Empfehlungen und veröffentlicht sie in regelmäßigen Abständen – als Tipp von Mitgliedern für Mitglieder. Da diese Empfehlungen ein höchst spannender und unterhaltsamer Gang durch die Literatur- und Sachbuchszene sind, sollen sie nun in der Vorweihnachtszeit einem größeren Kreis zugängig gemacht werden. Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek (JaLB) schließen sich dem kleinen Projekt an.


Dr. Dagmar Bronner (JaLB, Emden) empfiehlt: Angharad Price „Das Leben der Rebecca Jones“, übersetzt von Gregor Runge, dtv, ISBN 978-3-423-14564-0, 176 Seiten, 9,90 Euro

Die Autorin erzählt die Geschichte ihrer Familie aus der Perspektive ihrer Großtante, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf einem Bauernhof in Nordwestwales geboren wird. Das schmale Buch bietet – unterstützt von Fotografien – ein intimes Porträt des „Lebens einer ungewöhnlichen gewöhnlichen Familie im Herzen des ländlichen Wales“, wie es im Klappentext der ursprünglichen, in walisischer Sprache verfassten Ausgabe von 2002 heißt. Deren Titel „O! tyn y gorchudd“, der einem Gedicht entnommen ist und mit „zieh’ den Schleier fort“ übersetzt werden kann, spielt unter anderem auf das „Ungewöhnliche“ der Familie an, nämlich eine erbliche Erblindung, die drei Brüdern von Rebecca andere Lebenswege eröffnet als den sehenden Geschwistern. Geschildert werden ebenso die Veränderungen, die Zeitläufte und technischer Fortschritt für die ländliche Gemeinschaft mit sich bringen. – Die deutsche Übersetzung beruht auf der 2012 erschienenen englischen Fassung.





Klaus Frerichs (Emden) empfiehlt: Herman Melville: Bartleby, der Schreiber, Insel-Bücherei, ISBN: 978-3-45834-734-7, 88 Seiten, 14 Euro, Hörbuch als mp3-CD 9,44 Euro

Herman Melville, der Autor des „Moby Dick“, hat ein ganz erstaunliches Buch geschrieben. Sein „Held“ ist Bartleby, Angestellter einer New Yorker Rechtsanwaltskanzlei. Bartleby, der die ihm aufgetragenen Schreib- und Kopiertätigkeiten anfangs mit Fleiß und Hingabe erfüllt, äußert immer öfter: „Ich möchte lieber nicht… – I would prefer not to…“ Er wird immer schweigsamer, will die aufgetragenen Büroarbeiten nicht ausführen und lässt seinen Arbeitgeber verwirrt zurück. Was soll er tun? Melvilles Geschichte ist ein Meisterwerk. Gesellschaftskritisch, witzig, nachdenklich befasst es sich mit dem merkwürdigsten Lebewesen des Planeten: dem Menschen. Zu erwähnen: Diese parabelhafte und absurd-traurig-komische Erzählung erschien bereits 1853, lange vor Franz Kafka!







Claudia Lojewski-Bahr (Emden) empfiehlt: Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe, Suhrkamp Taschenbuch, ISBN 978-3-518-46388-8, 224 Seiten, 10 Euro

Anrührend, was Judith Schalansky, Autorin und Buchgestalterin, in die Welt setzt:
– Fraktur mon amour
– Atlas der abgelegenen Inseln
– Verzeichnis einiger Verluste (Longlist International Booker Prize)
– Buchreihe Naturkunde (Herausgeberin)
In „Der Hals der Giraffe“ verbringt die Lehrerin für Biologie und Sport, Inge Lohmark ihre letzten Berufsjahre in einer vorpommerschen Schule, die nach stetem Schrumpfen der Schülerzahlen um ihren Erhalt ringt. In strengem Habitus übermittelt sie ihr dezidiertes Wissen der Biologie (Bravo, Frau Schalansky!), wobei die Darwinsche Lehre unangefochten in erster Linie steht. Zunächst rscheint sie uns nicht gerade sympathisch, bis wir bemerken: Schalanskys wohldosierte Ironie ist der Spiegel, der uns vorgehalten wird. Als der Lehrerin Gefühle für eine Schülerin aufkommen, wird sie hellhörig, auch für ihre Vergangenheit. Und sieht sich mit Erschreckendem konfrontiert.

Judith Schalansky, Tochter eines Lehrerehepaares hat die Staatsbibliothek zu Berlin zu ihrem Arbeitsplatz erkoren, ein altehrwürdiges, weites Gebäude mit unerschöpflichem Archiv und internationalem Publikum. Auch dies offenbar inspirierend für ihren Bildungsroman.

Dr. Klaas-Dieter Voß (Emden, JaLB) empfiehlt: Kathrin Stern „Erziehung zur »Volksgemeinschaft«. Volksschullehrkräfte im »Dritten Reich«“, Brill | Ferdinand Schöningh, ISBN: 978-3-506-76027-2, 424 Seiten, gebunden, 89 Euro

Die vorliegende Dissertation beschäftigt sich mit der Rolle der Volksschullehrkräfte als Vermittler der nationalsozialistischen Idee im Dritten Reich. Sie arbeiteten unmittelbar an der Basis, da 90 Prozent der damaligen Schüler ausschließlich die Volksschule besuchten. Daneben spielten Lehrer aber auch im dörflichen Leben eine tragende Rolle, nicht zuletzt im Vereinsleben. Durch spezielle Schulungsmaßnahmen wurden sie befähigt, die ländliche Bevölkerung zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu erziehen.

Kathrin Stern gibt interessante Einblicke in die damaligen Verhältnisse, insbesondere in den Schulalltag des Landkreises Leer. Nicht alle Erwartungen wurden seinerzeit durch die Lehrerschaft erfüllt, einzelne Lehrkräfte widersetzten sich in Einzelaspekten der Gängelung durch den Staat. Kollektiv aber blieben die an sie herangetragenen Erwartungen unwidersprochen. Ungeachtet ihres Engagements im Dritten Reich übernahmen dieselben Lehrer nach 1945 die Erziehung der Jugend in der jungen Demokratie der Bundesrepublik. Ein lesenswertes Buch, das nachdenklich macht und Aufmerksamkeit verdient.