Die Bibel „vernünftig“ erklärt

Serie: Verborgene Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 4

Von Michael Weichenhan

Emden. Seit kurzer Zeit zählt ein wundervolles altes Buch zu den Beständen der JaLB. Sein Inhalt aber erschließt sich nicht ohne weiteres, und es mutet deshalb zunächst ein wenig „kurios“ an: „Mathesis Mosaica“ lautet der Titel, was sich erst einmal mit „Mosaische Wissenschaft“ übersetzen lässt. Der Untertitel erläutert: „Mathematische Stellen aus den fünf Büchern Moses mathematisch erklärt, mit einem Anhang weiterer mathematischer Bibelstellen“. Verfasst hat es der Jurist und Mathematiker Samuel Reyher (1635 bis 1714), einer der ersten Professoren an der 1665 in Kiel gegründeten Christian-Albrechts-Universität. In Kiel ist die „Mathesis Mosaica“ 1679 gedruckt worden.

Samuel Reyhers „Mathesis Mosaica“ in den Händen von Ewa Emery, Sekretärin der Johannes a Lasco-Bibliothek. Foto: Udo Bleeker

Zunächst zum Titel: Das griechische Wort „Mathesis“, das in unserem Ausdruck „Mathematik“ steckt, bedeutete für Reyher etwa das, was wir heute unter „exakten Wissenschaften“ verstehen: Mathematik und Naturwissenschaften. Und „Mosaica“, „mosaïsch“, bezieht sich auf den angenommenen Verfasser der ersten fünf Bücher der Bibel, Mose.

Titelblatt der „Mathesis Mosaica“ von Samuel Reyher, Kiel 1679

Worum geht es in diesem Werk? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir ein wenig ausholen. Denn die gedankliche Welt, in der sich Reyher bewegte, ist von der unseren ziemlich verschieden. Reyher las, nicht anders als beispielsweise seine berühmteren Zeitgenossen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716) und Isaac Newton (1643 bis 1727), die Bibel als Dokument einer von Gott den Menschen mitgeteilten Offenbarung von Wahrheiten.

Wahrheit bedeutete nicht nur, dass sie bestimmte ethische Grundsätze enthielt, an deren Gültigkeit sich schwer rütteln lässt, wie beispielsweise die „Zehn Gebote“ oder die „Bergpredigt“. Vielmehr galt der gesamte Bibeltext als ein vielschichtiges Gewebe von Informationen historischer, philosophischer und eben auch naturwissenschaftlicher Art. Sie ausfindig zu machen und richtig zu verstehen, war mitunter nicht ganz einfach, weder im Blick auf die Natur, noch auf den Bibeltext.

Sorgfalt, präzises Beobachten und Abstand zu den überkommenen Auffassungen waren Voraussetzungen dafür, das Wissen über die Natur einerseits zu vermehren, sich andererseits über die wahre Bedeutung des Textes der Bibel klarer zu werden. Obwohl es natürlich einen großen Unterschied macht, forschend und messend in die Geheimnisse der Natur einzudringen und einen alten, mitunter schwer verständlichen Text sachgerecht zu interpretieren, musste es zwischen beidem eine Verbindung geben. Fortschritt der Naturerkenntnis bedeutete auch Fortschritt der Bibelinterpretation. In dieser Haltung hat Reyher sein Buch verfasst.

Reyher lebte in einer Zeit, die nicht nur von der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges geprägt war, sondern auch vom Aufblühen der Naturwissenschaften: Exaktes Studium natürlicher Prozesse und das Vertrauen in die Sicherheit der Mathematik wurden zu erstrebenswerten Einstellungen; Physik und Mathematik versprachen, die Schlüssel zur Entzifferung der Welt, also der Schöpfung Gottes zu liefern. Wenn sie aber dazu in der Lage waren, dann mussten sie eben auch als geeignete Werkzeuge zum Verständnis der Bibel angesehen werden. Reyher führte auf den 808 Seiten seiner „Mathesis Mosaica“ vor, was das hieß.

War beispielsweise von dem Regenbogen die Rede, der nach dem Ende der Sintflut am Himmel sichtbar geworden war, so breitete Reyher die Erklärung der Erscheinung durch Strahlenbrechung und -reflexion aus, wie sie der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes (1596 bis 1650) in einer 1637 veröffentlichten Schrift vorgelegt hatte. Er griff dabei auch auf dessen Abbildungen zurück und zeigte sich, wie schon Descartes selbst, völlig unbekümmert, dass man einen Regenbogen niemals von der Seite sehen kann.

Die Entstehung des Regenbogens durch Brechung des Sonnenlichts und Reflexion an der Innenseite eines Wassertropfens. Reyher, Seite 142

Die Erklärung aus Brechung und Reflexion der Lichtstrahlen, die im übrigen bereits im Mittelalter formuliert wurde, war aber nur eines der Themen, die Reyher an dieser Stelle behandelte. Der Regenbogen nach der Sintflut gab Gelegenheit, sich mit den gängigen Theorien über die Entstehung der Farben zu befassen. Dem damaligen Stand der Wissenschaft gemäß hielt Reyher die Auffassung für richtig, dass die Farben aus einer Abschwächung des weißen Lichtes resultieren, also aus einer Art Mischung von Licht und Dunkelheit entstehen. Die alternative Theorie, wonach die weiße Farbe als Vereinigung farbigen Lichtes aufzufassen sei, das mittels eines Prismas in seine bunten Bestandteile zerlegt wird, hatte Newton zwar bereits 1675 aufgestellt, die entsprechende Abhandlung aber erst 1704 veröffentlicht.

Auch die Verheißung Gottes an den Urvater Abraham, er werde ihm Nachkommen erwecken, und zwar so zahlreich wie die Sterne am Himmel und die Sandkörner am Meer, gab Anlass, die Leser auf naturwissenschaftlich interessante Gebiete zu führen. Die Zahl der Sterne: War sie schier unendlich groß oder gab es lediglich diejenigen Sterne, deren Koordinaten die Sternatlanten verzeichneten?

Vermutlich war jedem klugen Beobachter des Sternenhimmels klar, dass da mehr als nur die 1025 Sterne leuchteten, die der Atlas des antiken Astronomen Ptolemaeus (100 bis 160) im 1. Jahrhundert verzeichnet, jedenfalls mehr als die 1005, die der große dänische Astronom Tycho Brahe (1546 bis 1601) am Beginn des 17. Jahrhunderts sehr präzise bestimmt hatte. Seitdem Galileo Galilei (1564 bis 1642) ein Fernrohr auf den Himmel gerichtet und dabei einige Monde des Planeten Jupiter gesichtet und die Milchstraße als Ansammlung unzähliger Sterne erkannt hatte, wuchs aber das Bewusstsein, dass der Himmel dicht übersät war von tausenden Gestirnen. Es kam nun lediglich auf die Qualität der optischen Linsen an, wieviel dieser funkelnden Objekte man zu Gesicht bekam.

Wenn also Gott einst Abraham eine unabsehbar große Zahl von Nachkommen verheißen und dies mit der Zahl der Gestirne veranschaulicht hatte, so musste, so Reyher, Abraham bereits klar gewesen sein, dass die Anzahl der Sterne ungeheuer groß war. Möglicherweise beruhte das auf einer besonderen Schärfe des Augenlichts, das die Menschen damals besaßen, vielleicht aber auch auf einer besonderen Eingebung. Die Frage ließ er offen; fest stand, dass sich aus dieser Stelle entnehmen ließ, dass dieses „Wissen“ von der gegenwärtigen Astronomie bestätigt wurde.

Reyher lieferte rationale Erklärungen für das, was in der Bibel stand. Es kam ihm nicht darauf an, in ihr Glaubenswahrheiten zu entdecken und Bestätigungen für die eigene konfessionelle Auffassung zu finden. Es ging um Sachverhalte, die sich mittels Physik und der Macht der Zahlen erfassen ließen. Die Methode dieser Bibelinterpretation folgte der Devise: lies und rechne. Er versuchte zu zeigen, dass bei genauer Betrachtung die vermeintlichen Wunder sich in nachvollziehbare Sachverhalte auflösen ließen.

Reyhers Erklärung des verlängerten Tages: In der oberen Zeile wird die Achsendrehung der Sonne dargestellt, die untere veranschaulicht die tägliche Achsendrehung der Erde. Im Fall des verlängerten Tages wird diese Drehung ausgesetzt, eine Halbkugel wird also 24 Stunden lang beleuchtet. Reyher, Seite 608

Das erforderte teilweise beträchtliche Gedankenakrobatik. So beispielsweise, wenn er den Bericht, bei einer Schlacht sei die Sonne nicht untergegangen, so dass den Israeliten Zeit genug geblieben war, alle ihre Feinde noch vor dem hinausgeschobenen Sonnenuntergang zu besiegen, astronomisch interpretierte. Als Anhänger des copernicanischen Weltsystems, das bekanntlich die Sonne unbeweglich ins Zentrum des Kosmos stellt, kam für ihn nicht in Frage, anzunehmen, die Sonne habe ihre Bewegung für eine gewisse Zeit eingestellt. Vielmehr, so Reyher, lasse sich jenes Wunder nur so erklären, dass die scheinbare Sonnenbewegung, die aus der Erdrotation resultiert, unterbrochen worden sei, die Erde also während einer bestimmten Dauer der Sonne dieselbe Seite zugewandt habe. Dass das zwar irgendwie denkbar, aber physikalisch unmöglich ist, sah Reyher nicht, und das war bei dem Stand der damaligen Physik auch noch in gewisser Weise nachvollziehbar. Das grundlegende Werk zur mechanischen Erklärung natürlicher Prozesse, Newtons „Principia mathematica philosophiae naturalis“ (Mathematische Prinzipien der Naturphilosophie), erschien erst 1686.

Auf den Gedanken, dass jener (scheinbare) Stillstand der Sonne sich einer Ausdrucksweise verdanken könnte – so wie wir davon sprechen, dass Augenblicke zu Ewigkeiten werden oder Tage wie im Fluge vergehen, ohne dabei etwas Physikalisches zu meinen – auf diesen Gedanken ist Reyher nicht gekommen. Das unterschied ihn beispielsweise von seinem Zeitgenossen Baruch Spinoza (1632 bis 1677); dessen „Theologisch-politischer Traktat“ war 1670 erschienen und hatte seiner kritischen Interpretation der Bibel wegen sogleich Skandale ausgelöst. Reyher kannte das Buch gut, an einigen Stellen zitierte er daraus lange Passagen. Der dort geäußerten Auffassung, dass die Bibel sich nicht göttlicher Eingebung verdanke, sondern auch die fünf Mose zugeschriebenen Bücher das Werk zahlreicher Autoren waren, die jeweils die Vorstellungen ihrer Zeit dokumentierten, aber keine zeitlosen Wahrheiten mitteilten, vermochte Reyher nicht zu folgen. Damit stand er nicht allein.

Hebräischer Text mit lateinischer Übersetzung. Da das Hebräische linksläufig ist, muss das Lateinische hier ebenfalls von rechts nach links gelesen werden. Reyher, Seite 24

Die „Mathesis Mosaica“ ist von dem Vertrauen getragen, in der Bibel Wahrheiten zu finden, die mit der Zeit von der wissenschaftlichen Forschung auch als solche erfasst werden. Sie bot einen sicheren Weg, die Bibel vernünftig und den anerkannten Standards der Wissenschaft entsprechend zu interpretieren. Dazu gehörte, dass die jeweils besprochenen Bibelstellen aus dem Alten Testament nicht nur in Latein, sondern auch auf Hebräisch wiedergegeben wurden.

Der Rückgang auf die ursprüngliche Sprache diente, wie der Einsatz von Physik und Mathematik, dem Streben, zur authentischen Ebene des Textes vorzudringen und diesen zu verstehen.

Wer in der Bibel las, stieß auf ganz unterschiedliche Informationen, auch solche, die märchenhaft erscheinen. Reyher lehrte, sie nicht einfach hinzunehmen, sondern sie zu verstehen. Viele sind ihm darin gefolgt. Reyhers Buch wurde zwar nur noch einmal in einer überarbeiteten Fassung in deutscher Sprache aufgelegt, aber sein Ansatz, die Bibel „vernünftig“ zu erklären, fand zahlreiche Nachahmer – weit in das folgende Jahrhundert hinein.

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.