Das historische Gedächtnis Ostfrieslands

Von Dr. Michael Hermann
Leiter des Niedersächsischen Landesarchivs Abteilung Aurich

Aurich. Am 9. April 1872 – mit dem Dienstantritt des ersten wissenschaftlichen Archivbeamten, Dr. jur. Ernst Friedländer – setzte die Geschichte des Königlich Preußischen Staatsarchivs in Aurich ein, so dass die heutige Abteilung Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs inzwischen auf eine 150jährige Geschichte zurückblicken kann.

Gründung des Staatsarchivs in Aurich

Allerdings bestand kurz vor der Gründung des Staatsarchivs noch die Gefahr, dass das „vormalige ostfriesische Archiv“ – gemeint waren die in Aurich noch bei der Landdrostei lagernden Unterlagen des früheren Fürstentums Ostfriesland – nach Osnabrück verlagert würde, wo 1869 ein eigenes preußisches Provinzial-Archiv eingerichtet worden war.

Gegen dieses Vorhaben regte sich in Aurich vehementer Widerstand. Die für die Verwaltung Ostfrieslands zuständige Zentralbehörde, die Landdrostei in Aurich, betonte, der ostfriesische „Local-Patriotismus“ würde „sich auf das Unangenehmste verletzt fühlen (…), wenn das Archiv aus Ostfriesland weggebracht werden würde“.

Da jedoch bei der preußischen Archivverwaltung Zweifel bestanden, ob die ostfriesischen Unterlagen umfangreich genug wären, um für einen Archivbeamten eine eigene Stelle einzurichten, wurde der Geheime Archivrat Dr. Roger Wilmans beauftragt, sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen.

Ansicht der heutigen Abteilung Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs. Bild: Ralf Claassen

Im Frühjahr 1870 besuchte Wilmans Aurich und verfasste ein ausführliches, 48-seitiges Gutachten, von dem er am 27. April 1870 eine Kurzfassung an die Landdrostei schickte. Seiner Ansicht nach boten die Unterlagen in Aurich ausreichend Arbeit, um einen Archivar für mindestens zehn Jahre zu beschäftigen. Darüber hinaus sah er auch ein gewaltiges Entwicklungspotential für ein eigenständiges Staatsarchiv. Denn „bei dem historischen Sinne der Ostfriesen, bei ihrer Liebe zur vaterländischen Geschichte“ könnten auch die Archivalien der ostfriesischen Städte, Korporationen und Herrlichkeiten in das neue Archiv aufgenommen werden, um dieses „hierdurch zum eigentlichen Mittelpunkt und Träger der auf die Erforschung der Ostfriesischen Geschichte gerichteten gelehrten Bestrebungen zu machen.“

War 1872 der erste wissenschaftliche Archivbeamte:
Dr. Ernst Friedländer (1841 bis 1903).

Bild: Landesarchiv

Die preußische Archivverwaltung schloss sich dieser Einschätzung an. Mit der Übergabe der Verantwortung für das Archiv vor 150 Jahren – genauer gesagt am 9. April 1872 – an den ersten wissenschaftlichen Auricher Archivbeamten Dr. jur. Ernst Friedländer trat das damals „kleinste preußische Staatsarchiv“ ins Leben.

Pläne zur Verlegung des Archivs

Doch mit der Errichtung des Staatsarchivs war – wie die Geschichte zeigen sollten – seine Existenz noch nicht auf Dauer gesichert. Noch zweimal bestanden Überlegungen, das Staatsarchiv in Aurich wieder zu schließen. 1886 wurde an eine Verlegung nach Hannover gedacht, weil das Auricher Archiv kaum benutzt werden würde. Allerdings war das Staatsarchiv auch auf vier kleinere Räume im ersten Stock der Buchhandlung Schulenberg aufgeteilt, so dass eine Benutzung kaum stattfinden konnte.

Als die Pläne zur Verlegung des Archivs nach Hannover in Ostfriesland bekannt wurden, lag bereits in erster Lesung ein entsprechender Beschluss des Preußischen Landtags vor. Mögliche Gegenmaßnahmen standen deshalb unter gewaltigem Zeitdruck. Nicht nur der Regierungspräsident in Aurich, sondern auch die Ostfriesische Landschaft und der Magistrat der Stadt Emden meldeten sich zu Wort und konnten letztlich die bereits getroffene Entscheidung abwenden: Das Staatsarchiv blieb in Aurich.

Zusätzlich ergab sich nun plötzlich die Gelegenheit, für das Archiv ein eigenes Zweckgebäude zu errichten, das im Garten der Präparandenanstalt an der heutigen von-Jhering-Straße 1889 entstand und bis in die 1960er Jahre das Auricher Archiv beherbergen sollte.

Zeichnung der südöstlichen Ansicht des Staatsarchivgebäudes in Aurich von 1889. Bild: Landesarchiv

1924 stand das Schicksal des Auricher Staatsarchivs nochmals auf Messers Schneide, als aus Sparsamkeitsgründen eine Vereinigung mit dem Osnabrücker Staatsarchiv angestrebt wurde. Diesen Plänen schlugen allerdings erneut massive Proteste aus Ostfriesland entgegen. Regierungspräsident Jann Berghaus drohte, bei einer Verlegung des Archivs werde „die sonst so ruhige und besonnene Bevölkerung aufbrausen wie das Meer“.

Auf einer von der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer in Emden organisierten Protestversammlung wurde eine Resolution verabschiedet: „Wir erblicken in der Aufhebung des ostfriesischen Archivs in Aurich eine schwere Beleidigung des ostfriesischen Volksempfindens, die sich durch keinerlei Sparsamkeitsrücksichten rechtfertigen läßt. In dem Archiv zu Aurich ruht die Geschichte und die Vergangenheit unseres Volkes, das geheiligte Erbe unserer Väter, das wir uns nicht entreißen lassen.“ Sicherlich auch an diesem entschlossenen Widerstand ist dieser bislang letzte Versuch, das Staatsarchiv in Aurich aufzulösen, gescheitert.

Entwicklung zu einem Gesamtarchiv für Ostfriesland

Gestaltete die Einrichtung in Aurich zu einem Gesamtarchiv für Ostfriesland: Dr. Franz Wachter. Bild: Landesarchiv

Nach seiner Gründung war das Staatsarchiv in Aurich noch weit von der prognostizierten Zielvorstellung entfernt, „Mittelpunkt und Träger“ der ostfriesischen Geschichte zu sein. Erst der langjährige Leiter Dr. Franz Wachter schickte sich zwischen 1897 und 1921 an, das Staatsarchiv Aurich „durch depositarische Einverleibung auch von Stadt- und Gemeindearchiven sowie von ‚Archiven einzelner Korporationen […] zu einem Gesamtarchiv Ostfrieslands auszugestalten“, ähnlich wie es Wilmans dreißig Jahre zuvor angeregt hatte. Zahlreiche historisch bedeutsame Unterlagen gelangten während seiner Amtszeit ins Staatsarchiv. Die Städte Aurich und Esens, aber auch die Ostfriesische Landschaft entschlossen sich, ihre älteren Akten dem Staatsarchiv komplett zur Aufbewahrung zu übergeben.

Der Umzug des Archivs

Das Archivgebäude an der von-Jhering-Straße wurde wegen der Bestrebungen Wachters, ein „ostfriesisches Gesamtarchiv“ zu bilden, rasch zu klein. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg litt das Staatsarchiv Aurich an Platznot, so dass sich die Übernahme größerer archivwürdiger Bestände immer schwieriger gestaltete. Doch eine Lösung dieses Problems ließ auf sich warten. Erst in den 1960er Jahren entstand am westlichen Rand Aurichs auf dem Grundstück zwischen dem ehemaligen Lehrerseminar und dem Gesundheitsamt ein dreigliedriger Archivneubau, der 1985 mit einem Anbau noch einmal maßgeblich erweitert wurde.

In diesem Gebäude an der Oldersumer Straße residiert das Auricher Archiv auch heute noch und verwahrt dort mehr als sechs Regalkilometer an Archivalien (Akten, Karten, Fotos etc.), die insgesamt über 700 Jahre ostfriesische Geschichtedokumentieren – von der ältesten Urkunde aus dem Jahr 1284 bis zu modernem Schriftgut, denn das Archiv ist – ebenso wie 1872 – weiterhin für die Überlieferungsbildung der Landesbehörden und Gerichte in Ostfriesland zuständig.

Darüber hinaus finden sich aber auch nicht-staatliche Unterlagen im Archiv, darunter aus Adelsarchiven (z.B. Inn- und Knyphausen, Gödenser Herrlichkeits- und Familienarchivs), Korporationen (z.B. Ostfriesische Landschaft), Kommunen (z.B. Stadt Aurich, Stadt Norden, Landkreise) oder Vereinen und privaten Nachlässen.

Ansicht des Archivgebäudes an der Oldersumer Straße aus den 1990er Jahren. Bild Gerd Heinz Buhr

Auf Grund dieser umfassenden Quellenlage verwahrt die Abteilung Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs bis heute das historische Gedächtnis der Region Ostfriesland, das nicht nur von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland, sondern auch von Schülern, Studierenden und Familienforschern gerne genutzt wird.

Das Jubiläum

Einen Überblick über die 150jährige Geschichte des staatlichen Archivs in Aurich bietet ein Beitrag von Dr. Michael Hermann mit dem Titel „Mittelpunkt und Träger der ostfriesischen Geschichte? Das staatliche Archiv in Aurich seit seiner Gründung vor 150 Jahren“, der im nächsten Emder Jahrbuch für historische Landeskunde Ostfrieslands (Erscheinungstermin Mai 2022) veröffentlicht wird.

Leitet das Niedersächsische Landesarchiv Abteilung Aurich seit 2016: Dr. Michael Hermann

Am 24. Juni 2022 findet anlässlich des Jubiläums eine wissenschaftliche Tagung des Niedersächsischen Landesarchivs mit dem Titel „Archive als ‚Mittelpunkt und Träger‘ für die Erforschung der ostfriesischen Geschichte? Tagung des Niedersächsischen Landesarchivs anlässlich der Errichtung des Königlich Preußischen Staatsarchivs in Aurich am 9. April 1872“ statt. Am Tag darauf (25. Juni 2022) bietet die Abteilung Aurich des Niedersächsischen Landesarchivs einen „Tag der offenen Tür“ an.