Einblicke in die gesamte bekannte Welt
Serie: Verborgene Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 6
Von Dr. Michael Weichenhan
Emden. Die Buchbestände der Johannes a Lasco-Bibliothek halten schöne Überraschungen bereit. Vor einiger Zeit fiel mir ein umfangreiches naturkundliches Werk aus dem 18. Jahrhundert auf, das ich hier eigentlich gar nicht erwartet hatte: Die „Histoire naturelle, général et particulière“ (Allgemeine und spezielle Naturgeschichte) von Georg-Louis Leclerc de Buffon (1707 bis 1788).
Einige Bände einer französischen Ausgabe waren im Bestand der Bibliothek Ebersdorf aufgetaucht, die vor einigen Jahren angekauft wurde und gegenwärtig bibliothekarisch erschlossen wird. Bislang ist unsicher, ob noch weitere zum Vorschein kommen werden. Dass das Riesenwerk sich dort vollständig erhalten hat, ist freilich unwahrscheinlich; zwischen 1749 und Buffons Tod umfasste es immerhin bereits 36 Bände, denen bis zur endgültigen Einstellung der Arbeit im Jahre 1804 noch weitere acht folgten.
Aber seit langem zählen deutsche Übersetzungen, die ab 1771 in Berlin erschienen, zum Besitz unserer Bibliothek. Von einer Ausgabe in sieben Bänden, auf starkem Papier gedruckt und koloriert, haben sich sechs [Hist. 4° 46(2) bis (7)] erhalten. Darüber hinaus findet man unter den Signaturen Philos. 8° 694 bis Philos. 8° 722 diese ersten Bücher sowie die Fortsetzungen: insgesamt immerhin 29 Bände.
Wer sich nicht gerade mit der Geschichte der Naturwissenschaften beschäftigt, wird Buffons „Naturgeschichte“ wohl kaum kennen; die Zeit ist über dieses riesige Werk hinweggegangen. Bereits die deutsche Ausgabe, in der dem übersetzten Text zahlreiche Kommentare beigegeben wurden, warf auf diese Gesamtschau der Natur kritische Blicke.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832) allerdings hat Buffon intensiv gelesen und geschätzt. Und das nicht nur, weil der erste Band der französischen Ausgabe in seinem Geburtsjahr 1749 erschien war. Er bewunderte die Fähigkeit des Autors, die von ihm beschriebenen Wesen anschaulich und plastisch zu schildern, vor allem aber, über den sorgfältigen Beschreibungen des Einzelnen den Zusammenhang der gesamten Natur nicht aus dem Blick zu verlieren.
Buffon hatte auf der ersten Seite klargestellt, was für einen guten Naturforscher unabdingbar war: „Man kann sagen, dass das Studium der Natur zwei Eigenschaften im menschlichen Geist voraussetzt, die einander zu widerstreben scheinen: die Gesamtschau eines feurigen Genies, das alles auf einen Blick erfasst, und die Aufmerksamkeit für das Geringfügige, die eine arbeitsame Natur auszeichnet, die bei einem einzigen Punkt verweilt.“
Als Goethe um 1800, zu einer Zeit, als die biologischen Forschungen sich bereits recht stark spezialisiert hatten, auf Buffon zurückblickte, erkannte er in ihm einen geistigen Verwandten, der einen ganzheitlichen Ansatz verfolgte, wie wir heute sagen. Die Kombination von Einzelbeobachtung und Gesamtschau prägte seine eigenen Arbeiten zur Botanik und Anatomie, aber auch zur Optik. Außerdem dürfte er ohnehin eine gewisse geistige Verwandtschaft mit Buffon empfunden haben, der zugleich Naturforscher und ein gefeierter Schriftsteller war. Als sein wissenschaftliche Ruhm verblasst war, galt er in Frankreich noch lange Zeit als Muster eines prunkvollen Stils.
Was erwartete die Leser, die sich nahezu Jahr um Jahr einen Band der „Naturgeschichte“ zulegten? Buffon versprach seinem Publikum Einblicke in die gesamte bekannte Welt. In einer Zeit, in der man – wie übrigens Buffon selbst, der nur selten den Schreibtisch seiner Bibliothek verließ und sich auf die Informationen von Reisenden stützte – allenfalls einige einheimische, aber in der Regel keine exotischen Tiere zu Gesicht bekommen konnte, holte man sich in den illustrierten Bänden die Welt ins Haus. Reisen war gefahrvoll, mühsam und kostspielig. Löwen und Hyänen, aber auch zahllose Vögel und andere erstaunliche Lebewesen ließen sich gefahrlos im bequemen Lehnstuhl bestaunen. Die beigegebenen Texte lieferten teils unterhaltsame, teils gelehrte und wissenschaftliche Erläuterungen.
Der Löwe beispielsweise steht, wie in der Tierfabel, als König der Tiere im Blick: „unter der brennenden Sonne in Afrika und Ostindien erzeuget, ist [er] unter allen Thieren das stärkste, verwegenste und schrecklichste. Die Wölfe und andere Fleischfressende Thiere unserer Gegenden sind, anstatt in gleichem Paar mit ihm gehen zu können, kaum würdig, seine Vorjäger und Spürer genennet zu werden.“ Freilich nur dort, wo er ganz wild aufwächst; wo er hingegen die Macht des Menschen zu spüren bekomme, verliere er seine Stärke. Er lässt sich, meint Buffon, dann sogar zähmen.
Vom Raben hingegen weiß er, dass er als grausamer Vielfraß gilt. „Wenn man zu den Zügen des Raben seine traurige Farbe, und sein noch traurigers […] Geschrey, seine unedle Gestalt, sein wildes Aussehen, den stinkenden Duft seines ganzen Körpers hinzu setzt, so wird man sich nicht wundern, daß er beynahe zu allen Zeiten als ein Gegenstand des Eckels und des Abscheus angesehen sey.“ Naturbeschreibung war bei Buffon eben noch nicht durchweg neutrale Schilderung. Vielmehr spielte der durch die Literatur und volkstümliche Überlieferungen geprägte Blick auf den „Charakter“ der Lebewesen eine beträchtliche Rolle.
Die „Natur“ war aber nicht nur die Welt der Lebewesen, der Tiere und Pflanzen (die Pflanzen waren bei Buffon allerdings ausgespart), sondern zu ihr gehörten auch die Mineralien, und im ersten Buch wurden verschiedene Theorien zur Entstehung der Erde und des gegenwärtigen Aussehens der Erdoberfläche erörtert. Das waren damals heftig diskutierte Themen. Denn erst im 17. Jahrhundert hatte man sich von der Vorstellung zu lösen begonnen, dass die mit Pflanzen und Tieren besetzte Erdoberfläche mit ihren Ozeanen, den Gebirgen, Ebenen, Flüssen und Seen schon immer dagewesen waren. Vielmehr mussten sie das Ergebnis vieler verschiedener Wandlungsprozesse sein.
Über schier unabsehbar lange Zeiträume hatten zum Beispiel Gewässer Täler in Gebirge geschnitten und das abgetragene Material flussabwärts transportiert. Die Welt war also nicht vor wenigen tausend Jahren von Gott geschaffen worden, sondern war seit abertausenden Jahren ständigen Wandlungen unterworfen. Ob dabei dem Wasser, also den langsamen Prozessen des Abtragens und Ablagerns, oder dem Feuer in Form plötzlicher Vulkanausbrüche, die entscheidende Rolle zukam, blieb lange umstritten.
Buffon hat, ähnlich wie später übrigens Goethe, Erklärungen bevorzugt, die Veränderungen auf langsam und geradezu unmerklich wirkenden Ursachen zurückführten. Man kann das politisch deuten: Buffon schrieb zur Zeit der Monarchie, einem System, das auf Stabilität und Dauer setzte, plötzliche Änderungen aber als Umsturz und Zerstörung, als „Revolution“, fürchtete. Die Natur spiegelt die gesellschaftliche Ordnung – und umgekehrt.
Das war nicht nur bei Buffon der Fall, dessen Natur ein hierarchisch gegliederter Zusammenhang war; in Zeiten des freien kapitalistischen Wettbewerbs wurde die Evolution der Lebewesen nach dem Modell des Konkurrenzkampfes gedacht, aus dem der Geschickteste siegreich hervorging. Charles Darwin (1809 bis 1882) nannte das „survival of the fittest“.
Buffon schrieb in einer Zeit, in der Wissenschaft ein neues Bild von der Welt entwarf. Es richtete sich nicht nur an den engen Kreis der Gelehrten, sondern an weitere Kreise. Naturforschung befriedigte nicht nur Neugier und Wissensdurst. Sie warf immer neue Probleme auf; mit Hilfe von Theorien konnte man sich orientieren, aber sie alle blieben Stückwerk und konnten das Staunen vor der unermesslichen Vielfalt der Wesen nie gänzlich in sicheres Wissen überführen. Sie behandelte auch die großen Fragen, die einst der christlichen Religion vorbehalten gewesen waren. Sie suchte zu ergründen, woher wir kommen, welche Stellung wir im Kosmos haben. Schwierigkeiten, die sich aus einem direkten Widerspruch zu der Annahme eines Schöpfergottes ergeben könnten, umging Buffon. Die Natur war kein Kunstwerk eines weisen Schöpfers mehr, sondern das Resultat innerer Prozesse. Freilich erschien Gott unverzichtbar, um den Kosmos in Gang zu setzen.
In einem der späteren Bände, die die Geschichte der Erde behandelten, wurde zur Entstehung des Lebens die Aktivität eines göttlichen Geistes überflüssig. Denn Buffon nahm an, dass organische aus unorganischer Materie entstanden sei und sich die Lebewesen durch Anpassung an die jeweiligen Umstände entwickelt hatten. Und auch der Mensch gehörte als körperliches Wesen ganz zur Natur. Allerdings war er als denkendes und sprechendes Wesen mit keinem der Tiere zu vergleichen. Die Seele, aus der sich die Fähigkeit zu denken und in die Geheimnisse der Welt einzudringen ergab, war auch bei Buffon nicht materiell. Gerade deshalb war sie nicht Gegenstand der Naturgeschichte.
Vielleicht stellte sich der französische Naturforscher den menschlichen Geist so vor, wie ihn ein Kupferstich ins Bild setzt: als einen aus den himmlischen Weiten auf die Erde blickenden geflügelten Genius. Erst ein Jahrhundert später wird der englische Biologe Charles Darwin starke Argumente vortragen, dass auch der Mensch ganz und gar ein Produkt natürlicher Entwicklungen ist.
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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt „Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.