Das nennt man dann wohl „Charakter“

Rysum. Léon Berben ist ein feinfühliger und verständnisvoller Musiker und Mensch. In dem verwirrenden Geflecht musikalischer Werke, das förmlich ineinander zu verlaufen schien, tönte plötzlich seine Stimme von der Orgelempore. „Falls Sie nicht mehr wissen, wo im Programm wir gerade sind, ……“ Schamhaftes Gelächter aus dem Publikum, denn der rücksichtsvolle Niederländer mit Wohnsitz in Köln hatte wohl genau ins Ziel getroffen.

Instrument des Mittwochabends: die gotische Orgel von Rysum

Wo waren wir denn? Bezogen auf den Ort waren wir im Rahmen des Krummhörner Orgelfrühlings in Rysum, wo der Organist und Cembalist Léon Berben, letzter Schüler des legendären Dirigenten und Organisten Gustav Leonhardt, gastierte.

Musikalisch aber waren wir im letzten Teil eines Programms, das viele jener Komponisten-Namen auflistete, die schon tags zuvor beim Eröffnungskonzert in Uttum aufgetaucht waren. Aber die Renaissancemusik, gespielt auf historischen Instrumenten und unter einem anderen Motto, ist weit entfernt von Renaissancemusik gespielt auf einer Orgel, die noch rund 100 Jahre älter ist als die Kompositionen. Das ist etwas völlig anderes, und das klingt auch ganz anders.

Der künstlerische Leiter des Festivals, Pastor Siek Postma, hatte durchaus recht, wenn er davon sprach, dass das Publikum bei diesem Konzert das Zwiegespräch zwischen Organist und Orgel geradezu voyeuristisch begleitete. Das Instrument und der darauf Spielende bildeten eine Einheit, der das Publikum hörend und beobachtend entgegenstand. Ob es eine Verständigung der beiden Parteien gab? Der Applaus sprach eher dafür.

Die Rysumer Orgel ist ein Instrument, das einer Epoche angehört, die noch vor der Renaissance liegt – sie ist in ihrem Kernbestand gotisch. Und das klingt spröder als die schmeichelnde Schalmei, der tönende Pommer oder der tanzende Dulcian. Es besteht in Rysum die Notwendigkeit, sich ganz auf das Klangbild einzulassen. Dann ist man mit einem Mal in etwa in der Luther-Zeit und staunt über die musikalischen Räume, die sich den damaligen Menschen geboten haben müssen. Es ist Alte Musik, die Berben in schöner Perfektion engagiert bot. Doch muss man sich einhören. Die mitteltönige Stimmung der Orgel klingt für die Ohren der Heutigen zunächst einmal fremd.

Das Publikum in der Rysumer Kirche, die Abstand und Maske einforderte, bestand aus Spezialisten, die sich mit dieser Art von Musik auskannten – kein Wunder, handelt es sich doch um den 19. Krummhörner Orgelfrühling, der stattfindet. Man wüsste also, was da kommen würde – harte Kost, aber doch reizvoll, Denn die alte Orgel verfügt über Kraft und Ausdrucksstärke. Das nennt man dann wohl „Charakter“.

Interessant war es, dass sowohl Katharina Bäuml von der Capella de la Torre als auch Léon Berben darauf verwiesen, dass in jener Zeit eine gute Melodie immer wieder neue Texte erhielt, und dass sich dabei Geistliches und Weltliches durchaus nicht gegenseitig behinderten. Berben führte das in seinem Programm explizit vor – auf geistlicher Ebene mit dem „Salve Regina“, auf der Weltlichen mit „Une jeune fillette“ (Ein junges Mädchen). Das war eindrucksvoll. In der Tat.

► Das nächste Konzert des Krummhörner Orgelfrühlings findet am 5. Mai in der Kirche zu Westerhusen statt. Das Konzert mit Reinhold Morath (Orgel) und Cornelia Milatz (Schlagwerk) beginnt um 20 Uhr. Ab 19.30 Uhr spielt der Handglockenchor Pilsum der Ländlichen Akademie Krummhörn unter Leitung von Professor Hans-Jürgen Tabel. Eintritt: 15 Euro