Literatur, deren Lektüre klüger macht

Serie: Verborgene Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 7

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Es gibt Bücher, die mit der Zeit vergessen werden und ausschließlich der historischen Neugier wegen von den Staubschichten befreit werden, die sich auf sie gelegt haben. Und es gibt solche, die selbst nach Jahrhunderten noch immer faszinieren. Sie bedeckt kein dunkler Staub, sondern man könnte sagen, dass sie im Laufe der Zeit eine edle Patina überzogen hat. Von einem solchen Werk soll heute die Rede sein.

In den Händen von Ida König, Bibliothekarin der Johannes a Lasco Bibliothek: Zweiter Band der Übersetzung von Karl Gottfried Schreiter, Leipzig 1788 (Sign: Hist. 8° 2063 (2) Eb).

Es geht um „The Decline and Fall of the Roman Empire“ (Niedergang und Sturz des Römischen Reiches). Geschrieben hat es zwischen 1772 und 1787 der englische Gelehrte Edward Gibbon (1737 bis 1794). Die Herkunft aus einer wohlhabenden Familie ermöglichte ihm ein Leben als Privatgelehrter. Nach dem Besuch der Westminster School studierte der erst Fünfzehnjährige kurze Zeit am Magdalen College in Oxford, wo er sich allerdings langweilte; er beging die in den Augen des Vaters unakzeptable Provokation, zum Katholizismus überzutreten.

Dem wiederum erschien es als geeignete pädagogische Maßnahme, den Sohn in die französischsprachige Schweiz zu schicken. Dort konvertierte Gibbon zwar wieder zum Protestantismus, hatte aber mit dem konfessionellen Christentum innerlich abgeschlossen. Seine Liebe galt der Geschichte und der lateinischen, griechischen und französischen Literatur, die er souverän beherrschen lernte.

Gibbon, der mit zahlreichen europäischen Gelehrten bekannt war, lebte fortan teils in Lausanne, teils in London. Politisch stand er den Liberalen, den „Whigs“, nahe. Bereits vor dem Erscheinen des ersten Bandes von „Decline and Fall“ im Jahre 1776 war Gibbon als Autor scharfsinniger Abhandlungen zur römischen Literatur in der europäischen Gelehrtenrepublik bekannt. Am Ende seines Lebens bestimmten ihn die Sorgen um Frankreich nach der Revolution von 1789 – und die Gesundheit des eigenen, füllig gewordenen Körpers.

Edward Gibbon; Bleistiftzeichnung von Ewa Emery nach einem Portrait von Joshua Reynolds

Die Johannes a Lasco Bibliothek besitzt durch den Ankauf der Reste der ehemaligen Schlossbibliothek Ebersdorf einige Bände der deutschen Übersetzung seines Hauptwerks, die zwischen 1779 und 1793 in Leipzig erschien, 1805 bis 1806 in neuer und erweiterter Auflage.

Deren erster Band stammte von dem Leipziger Professor Friedrich August Wilhelm Wenck, einem Experten für römische und germanische Rechtsgeschichte, der danach allerdings die Lust verlor und das Projekt liegenließ. Erst 1788 wurde es durch den ebenfalls an der Leipziger Universität Philosophie lehrenden Karl Gottfried Schreiter (1756 bis 1809) fortgesetzt. Bis 1793 kamen in regelmäßigen Abständen weitere zehn Bände heraus, was etwa zwei Dritteln des englischen Originals entspricht.

Schreiter war, anders als Wenck, in erster Linie Übersetzer, nicht nur aus dem Englischen, sondern auch aus dem Französischen, und er hatte, offensichtlich im Unterschied zu Wenck, keine Scheu vor Büchern, die die unwillige Aufmerksamkeit der Zensur auf sich zogen: Die Übertragungen von der „Naturgeschichte der Religion“ des schottischen Aufklärers David Hume (1711 bis 1776), vor allem aber des „System der Natur“ des Paul Thiry D’Holbach (1723 bis 1789), das man als „Bibel der Materialisten“ bezeichnet hat, stammten von Schreiter. Aus Vorsicht ließ er dort seinen Namen freilich unerwähnt.

Im Falle von Gibbons Werk zur römischen Geschichte, das sie im Zeitrahmen vom ersten Jahrhundert bis zur Eroberung der Stadt Konstantinopel 1453 durch die Osmanen behandelt, war eine solche Vorsicht nicht erforderlich. Und das, obwohl die Geschichte des Christentums unverkennbar distanziert und kritisch betrachtet wurde. Insbesondere die protestantische Leserschaft dürfte nicht nur die zahlreich eingestreuten boshaften Bemerkungen über ungebildete Mönche, machtbesessene Bischöfe nicht nur in Rom, die Zunahme an Aberglauben und den allgemeinen Niedergang von Bildung und Kultur seit dem vierten Jahrhundert gern gelesen haben. Denn insoweit entsprach Gibbon dem üblichen protestantischen Bild von der Geschichte der Kirche. Dass das Werk auf den päpstlichen Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde, schien das nur zu bestätigen; sicher erhöhte es die Attraktivität des Werkes beträchtlich, und zwar nicht allein bei protestantischen Lesern.

Titelblatt Edward Gibbon’s, Esquire, Geschichte des Verfalls und Untergangs des Römischen Reichs. Aus dem Englischen übersetzt und mit einigen Anmerkungen begleitet von Karl Gottfried Schreiter, Professor zu Leipzig. Zweyter Theil, Leipzig 1788

Aber Gibbon wiederholte nicht einfach die gängige protestantische Sicht. Bei „Niedergang und Sturz des römischen Reiches“ handelte es sich um ein typisches Erzeugnis des Geistes der Aufklärung. Es wurde nicht kritisiert, was als „katholisch“ galt, um dann ein in der Reformation wiederhergestelltes ursprüngliches Christentum um so heller leuchten zu lassen. Die Kritik reichte tiefer. Geschichte war für Gibbon nicht ein Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen moralischen Mächten, dem lichten Guten und dem dunklen Bösen, sie war auch keine Sammlung von Beispielen vorbildlichen oder abscheulichen Verhaltens.

Das Neue und noch heute Faszinierende an seinem Werk bestand darin, dass seine Erzählung die Vergangenheit in den Blick nahm, die ausschließlich von immanenten Kräften bestimmt war. Für Gibbon war die Geschichte ein Tummelplatz menschlicher Unzulänglichkeiten, von Machtstreben, Ignoranz, Gewalt und Illusionen, ein Panorama der leicht beeinflussbaren und zu allerhand Irrtümern neigenden Natur des Menschen, das der Gelehrte mit Trauer und der ihr benachbarten Ironie betrachtete.

Gibbons Geschichte wurde ein glänzender Erfolg. Der bereits erwähnte Wenck stellte im Vorwort zum ersten Band seiner Übersetzung fest: „Herrn Gibbons Werk ist sowohl in England, als in auswärtigen Ländern, wo Englisch gelesen wird, mit dem allgemeinsten entscheidendsten Beifall aufgenommen worden, und man hat geurtheilt, er habe die alten Geschichtsschreiber selbst […] übertroffen.“ Er habe, so heißt es weiter, „die zerstreuten Nachrichten […] gesammelt, gesichtet, geordnet, mit eben so viel philosophischer Kenntniß, als Geschmack vorgetragen, und so ein Ganzes hervorgebracht.“

Ähnlich urteilte Johann Joachim Eschenburg (1743 bis 1820), enger Freund Lessings und dessen Nachlassverwalter. Gibbon habe „zugleich Geschmack, Gefühl und Reichthum der Sprache in einem vorzüglichen Grade [besessen], um seiner Schreibart Würde, Klarheit, Reiz und Lebhaftigkeit mitzutheilen, und seine Leser eben so sehr durch den Vortrag, als durch den Inhalt zu gewinnen und zu fesseln.“

Auch Friedrich Schiller, der sich zeitweise mit dem Gedanken trug, das Dichten nur noch als Nebensache zu betreiben und stattdessen ‚Deutschlands erster Geschichtsschreiber zu werden‘, beeindruckte die Lebendigkeit der historischen Erzählung, die wohltuend von den trockenen Abhandlungen abstach, in denen sonst die Vergangenheit erinnert wurde. Schiller besaß die Übersetzung von Wenck und Schreiter, hat aber auch im englischen Original gelesen.

Das Hauptwerk Gibbons in der der Erstausgabe entsprechenden Aufteilung in sechs Bände; moderne englischen Standardausgabe, herausgegeben von Hugh Trevor-Roper, London 1993

Von „Aufklärung“ war die Rede, von einer ausgesprochen kritischen Behandlung der Geschichte des Christentums. Denn nicht zuletzt von ihm handelte ja Gibbons Werk: Im Römischen Imperium war das Christentum entstanden und nach zwei Jahrhunderten unter mehr oder minder starken Verfolgungen zur führenden, im Laufe des vierten Jahrhunderts schließlich zur Staatsreligion aufgestiegen. Die Kaiser, die in der neuen Hauptstadt Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) bis 1453 residierten, aber auch diejenigen, die seit der Krönung des Frankenkönigs Karl in Rom im Jahr 800 im Westen herrschten, waren Christen, ebenso – mit Ausnahme der Juden – ihre Untertanen.

Gibbon dachte nicht daran, diesen Siegeszug des Christentums rückhaltlos zu begrüßen. Wie der Titel des Werkes bereits deutlich macht, beschrieb er einen dreizehn Jahrhunderte währenden Verfall. Glänzend sei die römische Herrschaft von der Küste des Atlantik bis an den Euphrat während der Kaiser Trajan und des philosophisch gebildeten Marc Aurel im 2. Jahrhundert gewesen: ein Reich, das seinen Bürgern und Untertanen Sicherheit und einen gewissen Wohlstand gewährte, das mit Strenge und militärischer Disziplin die einmal errichtete Ordnung aufrecht erhielt, in dem vor allem aber religiöse Toleranz herrschte. Es gab in dem Imperium, das viele Völker unter das römische Joch gezwungen hatte, kaum Streitigkeiten oder Kriege, die auf Grund von religiösen Überzeugungen geführt wurden.

Das Imperium Romanum war nie von etwas heimgesucht worden, was weite Teile Europas seit Beginn der Reformation in Atem gehalten hatte: die Kämpfe zwischen Katholiken und den verschiedenen Richtungen des Protestantismus. Gibbon sah in der Gleichgültigkeit der Römer gegenüber den verschiedenen Kulten deshalb ein hohes Gut. Ebenso schätzte er den unerbittlichen Drill der römischen Armeen, deren einzigartige Kampfkraft die Grenzen des Reiches wenn nicht erobernd vorschob, so doch mindestens wirksam verteidigte.

Auswahlübersetzung von Michael Walter und Walter Kumpmann, München 2003

Für Gibbon hatte das Christentum zum allmählichen Niedergang dieser imperialen Friedensordnung nicht wenig beigetragen. Dessen religiöse Unduldsamkeit, an der er wiederum vor allem dem Judentum die Schuld gab, aus dem es entstanden war, habe das Reich von innen her entzweit und geschwächt, außerdem habe die Ausrichtung der immer zahlreicher werdenden Christen auf das jenseitige Heil die militärische Sorge um das Diesseits vernachlässigen lassen. Dass die römische Zivilisation nach und nach von den „barbarischen“ Völkern der Germanen, später von Arabern und Osmanen bedrängt und besiegt worden sei, seien fatale Folgen der Christianisierung. Und das Christentum selbst war für ihn eine religiöse Lehre, die an ihrem Ursprung rein und geradezu göttlich gewesen sein mochte, deren erstaunliche Ausbreitung aber nicht deren Wahrheit oder die göttliche Vorsehung unter Beweis stellte, sondern ausschließlich auf menschliche Faktoren zurückzuführen war.

Die Kombination aus Unbeugsamkeit, moralischer Strenge, Fürsorge für die Schwachen, der Fähigkeit zum Aufbau straff geführter Gemeinden und dem Glauben an die Unsterblichkeit stärkte die junge Religion und machte sie zunächst bei den unteren Schichten, später auch bei Gebildeten und Vornehmen attraktiv. Gibbons ironischer Ton gab zu verstehen, dass er befremdet war. Das 15. Kapitel, in dem der Aufstieg des Christentums behandelt wurde, gehörte zu den Passagen, die am stärksten kontrovers diskutiert wurden.

Gibbon entwarf im Rom des zweiten Jahrhunderts das Bild eines Imperiums, das seine Herrschaft über zahlreiche Völker zum allgemeinen Besten ausübte, das zwar Unterwerfung verlangte, aber durch freien Handel, religiöse Toleranz und Verbreitung von Bildung und Kultur wohltätig wirkte.

► Wer heute Gibbon liest, sieht darin das Selbstbild von Staaten gespiegelt, die sich anschickten, ihre Macht über die europäischen Grenzen hinaus energisch auszuweiten. Wir nennen das koloniale Expansion. Das traf in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etwa auf das Britische Königreich zu.
► Wer heute Gibbon liest, wird auch auf Gefahren aufmerksam, die mit der allmählichen Schwächung einer Weltmacht durch zahlreiche Krisen und Kriege einhergehen.
► Und schließlich wird der, der heute Gibbon liest, eine Darstellung eines wichtigen Abschnitts der europäischen Geschichte finden, deren Brillanz und weiter Horizont auch dann beeindrucken, wenn man den eingestreuten unverblümten oder ironischen Wertungen des Autors nicht zu folgen vermag.

Nicht zuletzt durch die Forschungsarbeiten der jüngeren Zeit ist Gibbons großes Werk heute das, was es bereits für viele Zeitgenossen gewesen ist: Ein großartiges Stück Literatur, dessen Lektüre klüger macht.

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.