Fast verklungen – dennoch gegenwärtig

Emden. In der Barockzeit war die Große Kirche verputzt und weiß gestrichen. Reste dieser baulichen Veränderungen nach dem Geschmack der Zeit sind heute noch an den Wänden der Johannes a Lasco Bibliothek zu sehen. Diese Fragmente weisen Spuren ihres Alters auf, Brandspuren, Abplatzungen, Salzeinlagerungen. Die Erinnerung daran ist nahezu verblasst, aber die letzten Reste sind immer noch da.

Ist es vermessen, angesichts dieser fast verlorenen architektonischen Relikte Parallelen zu ziehen zu der Musik, die da am Sonntag (29. Mai) in der Bibliothek vorgestellt wurde? Barockmusik, komponiert von Frauen im 17. und dem beginnenden 18. Jahrhundert, deren Notenwerke nur noch wenigen bekannt sind, die in Archiven schlummern und auf eine Wiederentdeckung warten. Ihre Musik war fast verklungen – und dennoch gegenwärtig.

Sorgten für ein eindrucksvolles Morgenkonzert: Anna Stankiewicz, Andrea Seeger, Roxana Neacsu, Renate Mundi und Vilma Pigagaite

Denn die „Sonntagsmatinée in der Bibliothek“ stellte sechs Werke von drei Komponistinnen der Zeit vor – wiedergefunden durch Zufall oder systematisches Nachforschen. Was Barbara Strozzi, Isabella Leonarda und Elisabeth Jacquet de La Guerre komponiert haben, passt sich einerseits in die damals bevorzugte Ausdruckswelt ein. Musik wird eingesetzt, um menschliche Gefühle und Stimmungen darzustellen, effektvoll ausgearbeitet und tiefgreifend emotional. Auf der anderen Seite sind da die individuellen Beigaben wie das Bestreben, besondere Akzente mit musikalischen Mitteln zu setzen.

Der leuchtende Sopran von Vilma Pigagaite brillierte insbesondere in der schmeichelnden Motette „Quam dulcis es“ von Isabella Leonarda. Hierbei waren im übrigen alle Musiker vereint – die beiden Barockviolinen von Anna Stankiewicz und Andrea Seeger tanzten über die Noten, während Renate Mundi (Viola da Gamba) und Roxana Neaczu (Cembalo) den Continuo-Part mit warmer Klangfülle unterstrichen. Das gefiel dem Publikum so gut, dass eine kleine Zugabe gewährt wurde.

Das Unbehagen des Klagegesangs „Lagrime mei“ von Barbara Strozzi war wie ein beseeltes Spannungsmoment mitten im Programmablauf platziert und zeigte die Vielfalt klanglicher und sängerischer Möglichkeiten des verzierten Stils. Der Effekt war machtvoll. Denn es herrschte sekundenlang völlige Stille, nachdem der letzte Ton verklungen war. Die sensible Stimmungslage des Werkes, die die Ausführenden geradezu genussvoll auskosteten, geriet zur Botschaft, die über die Jahrhunderte hinweg verstanden wurde.

Aus der Sicht des Publikums: die Musikerinnen um Vilma Pigagaite auf der Bühne der Johannes a Lasco Bibliothek

Schon der Einstieg in die Matinée mit der Triosonate für zwei Violinen und basso continuo von Elisabeth Jacquet de La Guerre bot einen geradezu spektakulären Einblick in eine extremen Lebenswelt zwischen größten affektiven Regungen von „himmelhoch jauchzend“ bis „zu Tode betrübt“. Als besonderes instrumentales Juwel erwies sich die hinreißende „Sonata duodecima“ von Isabella Leonarda., in der die Violine zauberhafte, lyrische Melodiebögen malte.

► Das schöne Matinée-Format wird am 25. September um 11.30 Uhr fortgesetzt mit den „Schätzen der himmlischen Steppe“. Dabei erklingt unter anderem Musik von Heinrich Erlebach, der in Esens geboren wurde, seine Ausbildung wohl am Auricher Hof der Cirksena erhielt und dann 35 Jahre lang am Hof des Grafen Albert Anton von Schwarzburg-Rudolstadt in Thüringen tätig war.