Fortwährender Sturm und Drang

Gezeiten-Konzerte 2022 vor 600 Besuchern in Esens eröffnet

Esens. Man wolle „mit Volldampf Fahrt aufnehmen“ sagte der Präsident der Ostfriesischen Landschaft, Rico Mecklenburg, in seinem Grußwort vor dem Beginn des Eröffnungskonzertes der „Gezeiten“ in der Magnuskirche in Esens. Er wusste zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht, wie recht er mit seiner Aussage haben sollte.

Das war während der Generalprobe: Matthias Kirschnereit spielt Mozarts Klavierkonzert Nr. 9 – noch ohne Orchester. Bilder: Norbert Schnorrenberg

Das Konzerte war von Beginn an ein Feuerwerk der Emotionen. Dieses ging von einer Dirigentin aus, die einen energetischen Nucleus innerhalb der NDR Radiophilharmonie bildete, deren Ausstrahlung aber nicht nur das Orchester und den Solisten, sondern vor allem auch das Publikum umfasste. Erina Yashima strahlte vom Podium in den Saal und ihr gestenreiches, aber enorm gezieltes, bewegtes und exaktes Dirigat erwirkte ein akustisches Vergnügen, das den ersten Konzertabend des Festivals zu einem bemerkenswerten Ereignis werden ließ.

Zudem hatte das Publikum den Vorzug einer besonders schönen Videoprojektion direkt in die Halbkuppel der Apsis. „Ein bewegtes Fresko“ bestaunte eine Besucherin diesen zauberhaften Service, der nun auch wirklich jedem Anwesenden detailreiche Einblicke gewährte.

So sieht es dann aus, wenn es ernst wird: Matthias Kirschnereit und die NDR-Radiophilharmonie

Schon in der Ouvertüre zur „Zauberflöte“ spürte man, dass es nicht allein um das Musizieren geht, sondern um Musikvermittlung auf besonders intensive Weise. Das Klavierkonzert Nr. 9 von Mozart erwies sich in der Zusammenarbeit von Dirigentin, Orchester und Solist als feingesponnenes Netzwerk, in dem die einzelnen Elemente wie ein Zahnrad ineinander griffen. Dies wurde besonders im brillanten dritten Satz deutlich, in dem Orchester und Solist sich gemeinsam ins musikalische Getümmel stürzten.

Dirigentin Erina Yashima mit dem Orchester

Matthias Kirschnereit erwies sich als Kenner der Materie, aber auch als Könner in der Durchführung, der zum Wohlgefallen des Publikums enorme Strahlkraft bezeigte. Wie er das Andantino mit ruhiger Hand anging, die Tiefen der Komposition auslotete und dann ein wunderbarer Übergang zum dritten Satz mit leichter Hand gelangt, das hatte Klasse.

Unter den Bäumen des Kirchplatzes konnte sich das Publikum vor dem Konzert und während der Pause ergehen

In Dvoraks Sinfonie Nr. 7 gelangte dann das Temperament der Dirigentin von Beginn an zum explosiven Ausdruck. Dabei wirkten der erste Satz, der immer als düster beschrieben wird, so lebhaft und großartig wie die Satzbezeichnung andeutet – „maestoso“. Der zweite Satz war ein Kraftpaket, das immer wieder von den Bläsern gebrochen wird – um dann als ein feines Gespinst von beruhigten Klängen ganz zart zu enden.

Auch das gehört für das Team der Gezeiten dazu: Anfassen beim Aufbau der Pauken

Dieser diffizilen Dämpfung folgte der dritte Satz mit dem wunderbare Scherzo. Dieses Scherzo nun tanzte und schwebte, jubilierte und verströmte sich in kraftvollem Bewegungsdrang. Die überaus dynamische Komposition durchlebte die vier Sätze in fortwährendem Sturm und Drang – und Orchester und Dirigentin schienen dieses pausenlose “Voran“ noch genussvoll zu forcieren.

Schnappschuss: Erina Yashima beim Dirigieren

Drei Werke wurden an diesem Abend zu einer wunderbaren Demonstration jenes von Matthias Kirschnereit immer gerne zitierten Satzes des Aristoteles: „Es liegt im Wesen der Musik, Freude zu bereiten.“ Es wurde dann zu solcher Freude, dass am Ende das 600-köpfige Publikum nahezu unisono dem Orchester und seiner umwerfenden Dirigentin mit stehenden Ovationen huldigte.