Neue Wege gehen – Zusammenhänge ermitteln

Emden. Freitagabend. Volles Haus in der Kunsthalle Emden. Stimmengewirr. Die Jungen Freunde der Kunsthalle servieren Cocktails und Drinks, auf den Stehtischen bieten sich in Gläschen Nüsse und Süßigkeiten an. Kunsthallen-Direktorin Lisa Felicitas Mattheis steht im Atrium des Hauses und bekennt: „Ich kann es gar nicht glauben, dass dieser Vorstoß der Butenostfriesen geklappt hat!“

Doch – hat er. Die 1. Ostfriesland-Biennale findet statt. 127 Jahre nach Venedig startet jetzt auch das „Venedig des Nordens“ mit einem Festival der Bildenden Kunst, wird am Sonnabend Oberbürgermeister Tim Kruithoff anmerken, als er die kleine, aber feine Ausstellung im Ostfriesischen Landesmuseum eröffnet wird, die der zweite von insgesamt 17 Ausstellungsorten der Biennale ist.


Rappelvoll – das Atrium der Kunsthalle bei der zentralen Eröffnungsveranstaltung

In kürzester Zeit haben drei gebürtige Ostfriesen, die heute in Berlin, Hamburg und Stuttgart arbeiten und im Bereich Kunst bestens vernetzt sind, einen Trägerverein gegründet und eine Kunstausstellung mit 30 zeitgenössischen Künstlern in Ostfriesland und im Groningerland vorbereitet. Organisatorin Ina Grätz, geboren in Aurich und ehemalige Praktikantin der Kunsthalle, erläutert die Anfänge.

Es war ein Gespräch mit Kollegen über die „Landschaft“ in der Bildenden Kunst, die zur Initialzündung wurde. Die Ostfriesen dachten an die ostfriesische Landschaft. Man habe gespürt, wo die Wurzeln lägen, sagt Ina Grätz. Fünf Künstler an fünf Orten – das war die Ausgangsbasis.

Doch dann wuchs das Projekt: Ostfriesland und die Niederlande – im Mittelpunkt Europas. Bestimmte zeitgenössische Künstler gerieten in den Blick, und Ina Grätz fuhr zu ihnen, warb für die Idee der 1. Biennale in Ostfriesland – und stieß auf offene Ohren. Einige kannten Ostfriesland schon, andere waren gespannt, was sie hier erwartet. Doch Ina Grätz wollte Bezüge entwickeln zu den Spezifika, die eine Küstenlandschaft bietet und erfordert.

Die Arbeiten von Johanna Reich im Landesmuseum gehören dazu. Sie befasst sich – unter anderem – künstlerisch mit Küstenlinien. Jasmin Alley, Direktorin des Ostfriesischen Landesmuseums, hat sie deshalb in die kleine Sondershow in ihrem Haus aufgenommen. Die Verschiebungen von Land und Meer seien allemal ein Thema für ein kulturhistorisch ausgerichtetes Haus, meint sie. Da passten dann auch zeitgenössische Positionen in ein kulturhistorisches Museum.

Eine der Initiatoren der 1. Ostfriesland Biennale: Kunsthistorikerin Ina Grätz

Neue Wege gehen, um Zusammenhänge zu ermitteln – in der Kunsthalle ist das auf eine goldene Spitze getrieben – mit der Niederländerin Sarah von Sonsbeeck. Sie arbeitet ausschließlich mit diesem Material, indem sie in ihren Werken unterschiedliche Zustandsformen des Goldes aufgreift.

„Vorsicht! Ein Kunstwerk!“ – Eine mahnende Stimme leitet den unachtsamen Besucher in der Kunsthalle rund um eine goldene „Pfütze“ auf dem Boden. Auf der anderen Seite des Atriums findet sich ein ganzer Berg aus schön drapierten Goldfäden – fast möchte man glauben, dass da jemand aus Stroh Gold gesponnen und das Ergebnis dieser Mühe auf dem Boden liegen gelassen hat. Die Werke der Sarah von Sonsbeeck „regen an zu Reflexionen über Wert und Wertigkeit von Gold und schlagen die Brücke zu einem traditionsreichen ostfriesischen Handwerk, der Filigran-Goldschmiedekunst, die die Region nachhaltig prägte“, heißt es in einer Mitteilung der Kunsthalle. Egal, wie diese künstlerische Position interpretiert wird – man kommt ins Grübeln.

Die Ausbreitung der Biennale auf 17 Orte diesseits und jenseits der Grenze soll auch durch die zurückzulegenden Wege Anregungen bieten, meint Ina Grätz. Denn die Orte bieten zwar die Kunst, aber doch mehr. Es ist also eine Möglichkeit auch für Einheimische, die Region touristisch neu zu erschließen – und das möglichst per Rad.

Die grenzüberschreitende Form des Projektes war die Begründung für die Ems-Dollart-Region (EDR), alles Geld aus dem Interreg V-Programm, das noch übrig war, „zusammenzukratzen“ und in das Projekt zu investieren. Armin Gallinat, stellvertretender Interreg-Geschäftsführer, ist gespannt, wie das Angebot nun angenommen wird. Dass sich die EDR in zwei Jahren – dann soll die nächste Veranstaltung dieser Art stattfinden – wieder beteiligen wird, hält er durchaus für möglich.

Die „überregionale Thematik“ der Biennale hat auch die Ostfriesische Volksbank eG und die Stiftung Niedersächsischer Volksbanken und Raiffeisenbanken veranlasst, sich unter die Förderer zu gesellen, sagte Holger Franz, Vorstandsvorsitzender der Ostfriesischen Volksbank eG, in seinem Grußwort. Ebenso hat die EWE-Stiftung das Projekt für förderwürdig befunden und sich an den Gesamtkosten von rund 50 000 Euro beteiligt.

Und dann wollen in der Kunsthalle alle nur noch miteinander reden. Viele der ausstellenden Künstler sind anwesend. Man kennt sich und ist gespannt auf das, was noch folgen wird. Derweil macht Lisa Felicitas Mattheis darauf aufmerksam, dass das von den „Jungen Freunden“ eingenommene Getränke-Geld für Neuanschaffungen der Kunsthalle eingesetzt wird. Man möge reichlich zugreifen. Das Bare wird nicht kassiert, sondern landet in einer Spardose in Form einer blauen Kuh, die einen Namen hat. „Bitte füttern Sie Bob“, ermuntert die Kunsthallen-Direktorin.

Diese „Pfütze“ ist aus Gold – eine Arbeit der Niederländerin Sarah von Sonsbeeck

Während die Kunsthalle ihr Atrium für die Gold-Zustandsformen von Sarah von Sonsbeeck frei gemacht hat, sind es im Ostfriesischen Landesmuseum drei Künstler, die im ehemaligen Kino-Saal jeweils ein Werk vorstellt: eine mehrteilige massive Holz-Struktur von Sir Tony Cragg, eine Video-Installation von Andreas Gehrke und eine dreiteilige Foto-Arbeit von Johanna Reich.

Diese wirkt auf den ersten Blick wie Wolkenformationen – ganz in zartestem Blau und Weiß. Doch der zweite Blick enthüllt, dass es sich hier um Küstenlinien handelt, die sich aus dem scheinbar so stimmigen Farbkonzept herausschälen. Man erkennt aber auch massive Veränderungen in der Linie. Kein Wunder, dass der Bildtitel „Shape of the Shore“ ergänzt wird durch die zwei Begriffe „Wirtschaft“ und „Anthropozän“, letzteres ein Wort für die vom Menschen überformte Erde. Und schon wird aus dem harmlosen Bildtitel „Form des Ufers“ ein Politikum, das die Folgen menschlichen Lebens auf diesem Planeten in den Fokus stellt.

► Die Ausstellungen in Emden, Aurich, Pilsum, Groothusen, Noden, Berum, Lütetsburg, Bunderhee, Leer, Engerhafe, Winschoten, Slochteren, Appingedam, Uithuizen und Groningen sind bis zum 4. September zu sehen. Näheres unter www.ostfrieslandbiennale.de