In entrückte Zeiten und an ferne Orte

Serie über die Schätze aus der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 8

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Bücher zu lesen erweitert buchstäblich den Horizont. Sie lassen in längst vergangene Zeiten reisen und an weit entfernte Orte. Lesend kann man zum Weltbürger werden.

Klaus Döring, ehrenamtlicher Mitarbeiter in der JaLB, liest im Janssen-Raum in den beiden Ausgaben der „Geschichten aus tausendundeiner Nacht“. Bilder: Udo Bleeker

Ein Buch, das seine Leser in entrückte Zeiten und an ferne Orte entführt, soll heute aufgeblättert werden. Bereits der Titel verheißt viel: Geschichten aus tausendundeiner Nacht. Erwartungen und Bilder beginnen aufzuglimmen, die Zauberwelt des Orients gerät vor das innere Auge – des Orients der engen Gassen und prächtigen Paläste, der mandeläugigen Frauen, der schlauen Sklaven und gewitzten Kaufleute, der jähzornigen Könige und der Dschinn, der Landschaften irgendwo zwischen Kairo und Bagdad, Akra und Damaskus.

Die Johannes a Lasco Bibliothek verfügt über zwei Ausgaben der Geschichten, die wohl wie keine anderen unsere Vorstellungen von Arabien, ja vom Orient geprägt haben: Eine 1768 in Leiden erschienene Ausgabe des zuerst zwischen 1704 bis 1717 in Paris publizierten französischen Textes unter dem Titel „Les mille et une nuit contes Arabes“, übersetzt von Antoine Galland (Signatur: Philos. 8° 629M–634M). Und eine Übersetzung „Tausend und eine Nacht. Arabische Erzählungen“, die auf den deutschen Arabisten Gustav Weil (1808 bis 1889) zurückgeht (Signatur: Philol. 4° 716 J (1)–(4)).

Frontispiz und Titel der „Les mille et une nuit contes Arabes“, Band 1, Leiden 1768.

Galland, 1646 in der Picardie geboren und früh verwaist, hatte das Glück gehabt, in Paris rechtzeitig und gründlich in den klassischen Sprachen Latein und Griechisch unterrichtet worden zu sein. Mit 24 Jahren begleitete er den französischen Gesandten, den Marquis de Nointel, nach Istanbul, die Hauptstadt des Osmanischen Reiches. Ludwig XIV. beabsichtigte, Frankreichs Position im östlichen Mittelmeer gegenüber den Niederlanden und England zu stärken, es sollten Verträge über Handelsniederlassungen im Osmanischen Reich abgeschlossen und nicht zuletzt katholische Christen bzw. dem Katholizismus freundlich gesonnene Kirchen unterstützt werden.

Es waren vor allem seine brillanten Kenntnisse des klassischen Griechisch, die Galland für die diplomatische Mission qualifizierten. Allerdings lernte der junge Mann schnell: nicht nur das gesprochene Griechisch, sondern auch Türkisch, Persisch und Arabisch. Bei ausgedehnten Reisen durch das Reich besichtigte er die zahlreichen antiken Ruinen, interessierte sich für Kunstschätze und Manuskripte. Galland kehrte nach kurzen Unterbrechungen immer wieder ins Osmanische Reich zurück. Nach der endgültigen Rückkehr nach Frankreich im Jahre 1688 begann seine wissenschaftliche Karriere als Experte für die orientalische Kultur, ab 1709 bekleidete er eine Professur für Arabistik am „College Royal“. Im Februar 1715 ist der Kenner und Bewunderer der morgenländischen Literatur in Paris verstorben.

Keines seiner zahlreichen Werke, beispielsweise eine Abhandlung über die Geschichte des Kaffees, hat auch nur annähernd die Aufmerksamkeit erlangt wie die Übersetzung jener arabischen Geschichten. Sie hat im wahrsten Sinne des Wortes Epoche gemacht, sie hat eine Tür nicht nur zu einem einzigen Raum geöffnet, sondern in einen riesigen Palast. Die Auflagen überschlugen sich: Schon 1714, also noch vor Veröffentlichung der letzten Bände, kam in Paris die sechste Auflage des ersten Bandes auf den Markt! Und das war keine rasch vorübergehende Mode. Gallands französischer Text wurde in andere europäische Sprachen übersetzt, ins Deutsche 1781 von dem Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voss (1751 bis 1826). Ein Erfolg war das allerdings nicht, vermutlich auch deshalb, weil ein französischsprachiges Buch nicht unbedingt ins Deutsche übertragen werden musste, um gelesen zu werden.

Gleichzeitig begann das Interesse an dem arabischen „Original“ zu erwachen. Damit aber beginnt eine Geschichte, die fast ebenso spannend und verwickelt ist wie die Erzählungen der schönen Schahrasad, die, um ihr Leben zu retten, ihrem Mann, dem König, jede Nacht eine Begebenheit vorzutragen beginnt, die in der kommenden Nacht fortgesetzt wird. So entstehen ineinander verschlungene Erzählungen, in denen jemand von jemandem erzählt, der von jemandem dies und jenes erzählt … Denn es ist nur die Neugier auf den Ausgang der Geschichte, die den König von seinem Entschluss abhält, seine Frau nach der ersten Liebesnacht zu töten. Was sie sich während der 1001 Nächte alles hat einfallen lassen, also während zweier Jahre und 271 bzw. 293 Tagen (je nachdem, ob man das Jahr zu 365 oder nach dem muslimischen Mondkalender zu 354 Tagen ansetzt), wusste schon Galland nicht genau: die arabische Handschrift, auf die er sich hauptsächlich stützte, war unvollständig.

Titel der Ausgabe von Gustav Weil und Ludwig Fulda, Band 1, Berlin 1914.

Gab es vollständige Handschriften? Gelehrte Reisende fahndeten auf Märkten und in Bibliotheken von Kairo, Istanbul und anderswo in den Weiten der arabischsprachigen Welt. Man fand Teile, aber kein „Original“, vor allem kein vollständiges. Der Breslauer Professor Maximilian Habicht (1775 bis 1839) ging bei seiner zwölfbändigen Ausgabe, die erst nach seinem Tode fertiggestellt wurde, so vor, als handele es sich bei den verschiedenen Texten lediglich um Fragmente eines Textes. Er setzte zusammen, was er an handschriftlichen und bereits gedruckten Ausgaben hatte finden können und verlieh der so hergestellten Textgestalt das nötige Ansehen, indem er behauptete, er fuße auf einer aus Tunis stammenden Handschrift. Auch wenn letzteres nicht stimmte, war das Verfahren selbst ganz vernünftig und wurde lange Zeit praktiziert. Im Prinzip verfuhr so auch der große Orientalist Gustav Weil, der eine neue Übersetzung „aus dem Urtext“ in Angriff nahm.

Heute geht man davon aus, dass es keinen ursprünglichen Text „Geschichten aus tausendundeiner Nacht“ gegeben hat, sondern es sich bei allen Handschriften um Sammlungen handelte, in denen Erzählungen aus dem riesigen Raum zwischen dem östlichen Mittelmeer und dem Ganges verbunden waren. Auch für die arabischen Erzähler spielte sich ein großer Teil in einem märchenhaften „Orient“ ab: Persien, Indien und China in sagenhafter Vorzeit. Von überall strömten Geschichten zusammen, wuchsen zusammen, trennten sich wieder, neue kamen hinzu. „Die Geschichten aus tausendundeiner Nacht“ lassen sich einer sehr alten Stadt vergleichen, in der Altes fortwährend von Jüngerem ersetzt, ein- und überbaut wird, Baumaterial umgeschichtet und auf neue Weise verwendet wird. Selbst der Neubau folgt dem uralten Straßenzug und steht auf den Mauern der Keller längst abgerissener Gebäude.

König Schahriyar und Schahrasad im barocken Ehebett unter einem Baldachin, Frontispiz des dritten Bandes der Ausgabe von Galland.

Wie bei der Textvorlage selbst – Galland war klug genug gewesen, überhaupt keine in Aussicht zu stellen – ging es bei den Übersetzungen zu. Galland übersetzte nicht nur frei nach seiner Handschrift, er passte die Geschichten auch dem Zeitgeschmack an. Die teilweise sehr derbe Erotik war auf ein erträgliches Maß zurückgestutzt, und schon die Illustrationen machten deutlich, dass der Orient hier in die europäische Welt und seine höfische Kultur Einzug gehalten hatte. Und er füllte die Bände mit Geschichten, bei denen selbst der ungeübteste Leser sogleich bemerkt, dass sie ganz anders sind als die kurzen Erzählungen der Schahrasad: „Aladin und die Wunderlampe“, auf zwei Bände verteilt, macht allein fast ein Zehntel seiner Ausgabe aus. In der von ihm benutzten Handschrift fand sich diese Geschichte nicht, ebenso wenig wie „Ali Baba und die 40 Räuber“ mit ihrem zum festen Spruch gewordenen „Sesame, referme toi – Sesam, öffne dich“. Galland dürfte sich hier auf Erzählungen gestützt haben, die er auf seinen Reisen gehört hatte oder die ihm später zugetragen wurden. Dass sie sich schließlich in arabischen Editionen fanden, zeugt von dem enormen Einfluss, den seine Ausgabe ausübte.

Ein hilfreicher Dschinni bei Galland (Frontispiz zum neunten Band).

Gustav Weil schrieb seine Übersetzung in der Zeit des Biedermeier, zwischen 1837 und 1841, durch Überarbeitung seitens eines wohlwollenden Freundes wurde sie auf den Ton gestimmt, den man für „Märchen“ nach dem Vorbild der Gebrüder Grimm, Wilhelm Hauffs und Hans Christian Andersens passend empfand. Der biedere Charakter, den sein Text aufwies, machte das Werk zu einer Art Kinderbuch, in dem Anstößiges weitgehend fehlte. Weils Übersetzung ist lange die deutsche Fassung gewesen und wurde oft nachgedruckt. Unsere Ausgabe von 1914 ist aufwändig gestaltet und huldigt mit den teilweise ein wenig schlüpfrigen Illustrationen den Vorstellungen, die man sich in Europa von der betörenden erotischen Atmosphäre des Orients machte. Natürlich fehlten auch die furchterregenden Geister nicht, die Dschinn, deren Erscheinen das gemächliche Leben empfindlich störte, Arme reich machen und Hochmütige zu Fall bringen konnte.

Ein hilfreicher Dschinni in der Ausgabe von Weil und Fulda.


Es gibt heute eine sehr große Zahl von Ausgaben, Übersetzungen, Kommentaren und Adaptionen der Geschichten aus tausendundeiner Nacht, in denen sich die ganz unterschiedlichen Interessen ihrer Autoren widerspiegeln. Nach 30jähriger akribischer Arbeit hat der irakisch-amerikanische Philologe Muhsin Mahdi 1984 eine kritische Ausgabe desjenigen Textes vorgelegt, den Galland in erster Linie benutzt hatte. Ihn hat die deutsche Arabistin Claudia Ott (geb. 1968) übersetzt; ihre zuerst 2004 erschienene Übertragung strebt nach Präzision und Klangschönheit. Denn jene Geschichten sind nicht allein zum Lesen, sondern vor allem zum Hören. Auf zahlreichen Lesereisen hat sie das erprobt, unter anderem mit einem Sprecher, der in Emden wohlbekannt ist: Hermann Wiedenroth.

Tausendundeine Nacht. Nach der ältesten Handschrift in der Ausgabe von Muhsin Mahdi erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott, München 2004.

Am Schluss sollen zwei Äußerungen stehen von Personen, die auf Grund ihrer Gelehrsamkeit und ihrer Erfahrung mit Literatur Gehör verdienen. „Es ist nicht nötig, den Leser auf Wert und Schönheit der Geschichten hinzuweisen, die in diesem Werk enthalten sind“, schrieb Galland am Anfang seines Vorwortes. „Sie sind sich selbst Empfehlung genug. Und man kann sie nur lesen, um zu bekennen, dass man in diesem Genre bis zum heutigen Tage nichts von vergleichbarer Schönheit gelesen hat – in keiner Sprache.“ Und der große argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges versichert: „Man hat Lust, sich in ‚Tausendundeiner Nacht‘ zu verlieren; man weiß, dass man beim Betreten dieses Buches sein armseliges menschliches Los vergessen kann“.




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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.