Elektrisierende Hochspannung

Das 10. Konzert der „Gezeiten“

Emden. Vier Instrumentalisten spielen Kammermusik – und der Saal ist hingerissen, obwohl er schwere Kost zu hören bekommt. Das Trio eines 25-jährigen, der im KZ umgekommen ist, Schumanns unruhiges Klavier-Trio Nr. 1, und dann Faures Klavier-Quartett Nr. 1, sein einziges, das ihn aus einer Depression retten sollte. Das hört sich alles schrecklich deprimierend an – und doch – in der Durchführung lag keine negative Energie, sondern elektrisierende Hochspannung.

Viviane Hagner (Violine), Yannick Rafalimanana (Klavier), Emma Wernig (Viola) und Mikayel Hakhnazaryan (Violoncello) schufen eines dichtes biographisches Geflecht. Bilder; Karlheinz Krämer

Viviane Hagner (Violine), Emma Wernig (Viola), Mikayel Hakhnazaryan (Violoncello) und Yannick Rafalimanana (Klavier) widmeten sich den Werken mit einer mitreißenden Wucht – durch ein hochdynamisches, manchmal auch aggressives Spiel, dass enorme Wirkung zeigte. Das Publikum bekam instinktiv mit, dass sich hier etwas Ungewöhnliches anbahnte – und lauschte gebannt, um dann in frenetischen Jubel auszubrechen.

Was empfindet ein Mensch, der in der brutalen Umgebung eines KZ sitzt und komponiert. Wie hört sich diese Musik an? Das Trio Hagner, Wernig und Hakhnazaryan zeigte nicht nur, wie sich so etwas anhört, sondern sie legten emotionale Tiefe in die drei kurzen Sätze des einzigen Trios von Gideon Klein – eine Partitur, die zwar aus dem KZ geschleust werden konnte, dann aber 50 Jahre verschollen war. Nicht nur Bücher haben ihre Geschichte, sondern auch Musikstücke können eine manchmal irritierende Historie aufweisen.

Das Trio von Gideon Klein führt in eine disparate musikalische Welt, die gebändigt wird durch die darin verarbeiteten heimischen Volkslieder. Das gab einen starken Kontrast zwischen der Erinnerung an die heimatliche Erdung und der schrecklichen Realität in Theresienstadt. Leidenschaft aus Leid?

Intensives Spiel: Viviane Hagner und Mikayel Hakhnazaryan

Auch für Schumann war das Trio op. 63 das erste. Und es lebt von seiner inneren Heißblütigkeit. Schon die Satzbezeichnungen machen dies deutlich: mit Energie und Leidenschaft, lebhaft, mit Feuer. Hagner, Hakhnazaryan und Rafalimanana schwelgten nicht nur in wunderbaren Motiven, sondern auch in dem vom Komponisten geforderten Temperament und zeigten eine bewundernswerte Energieleistung. Was für ein Zufall, dass im dritten Satz tatsächlich die Feuerwehr ausrückte und somit einem sprechenden vierten Satz „mit Feuer“ eine Vorlage lieferte.

Momentaufnahme: Pianist Yannick Rafalimanana

Faurés Klavier-Trio Nr. 1 brachte Bratscherin Emma Wernig wieder zur Gruppe, und nun steigerte sich die Dynamik des Spiels noch. Man kann nachlesen, dass das Komponieren des Quartetts womöglich mit der Lösung seiner Verlobung zu tun hatte. Verzweiflung aus Leidenschaft? Wie auch immer – man hatte zeitweilig das Gefühl, auf einem Hexenbesen zu hocken, der sich – á la Goethe – selbständig gemacht hat. Ein atemberaubender Eindruck, den die Besucher mit sich nach Hause tragen konnten.