Sternenglanz – So müsste er klingen

Leer. Wenn man den künstlerischen Leiter der Gezeitenkonzerte, Matthias Kirschnereit, fragt, wie er die Musik des Pianisten Rudolf Buchbinder sieht, dann lautet seine Antwort: „Selbstverständlich.“ Nicht historisierend, nicht romantisierend, einfach nur „selbstverständlich“.

Eingesponnen in einen Kokon aus Licht und Dunkel: Rudolf Buchbinder. Bilder: Karlheinz Krämer

Vielleicht ist genau dies, diese selbstverständliche Spiel das, was die Menschen fasziniert. Und fasziniert waren die Besucher des Konzertes von Rudolf Buchbinder im Theater an der Blinke in Leer. Fasziniert von diesem Mann, der mit gedämpftem Feuer so selbstverständlich am Klavier sitzt und die schwierigsten Passagen mit traumhafter Leichtigkeit spielt. Wenn er die Logik Bachs, die Lyrik Schuberts oder das Temperament Beethovens in Töne umsetzt, dann sitzen Logik, Lyrik oder Temperament fast nur in den Händen, die mit ästhetischer Disziplin interpretieren. Der Mann selber scheint davon äußerlich unberührt.

Etwas legerer: Buchbinder probt

Er kommt auf die Bühne, eine Verbeugung, setzt sich ans Instrument und spielt – keine Kunstpause, keine dramatische Zäsur – nichts. Nahezu ungerührt nimmt er den Applaus entgegen. Es scheint, dass Buchbinder den in den vielen Jahrzehnten seines aktiven Musiker-Seins schon zu oft gehört hat. Nicht, dass er dessen müde wäre, o nein. Aber auch das scheint für ihn selbstverständlich – dieses überbordende Klatschen, die Standing Ovations, die Bravo-Rufe. Was denkt der Mann auf der Bühne?

Erwartungsvoll: Das Publikum vor Beginn der Konzertes vor dem Theater an der Blinke in Leer

Im Umgang sei er jedenfalls ein freundlicher Herr, so kann man später hören. Geplauder auf der Fahrt vom Bremer Flughafen – Buchbinder kam wohl gerade aus Bad Kissingen – nach Leer. Worüber? Vor allem über die schwierige Lage junger Musiker, über nur halbvolle Säle, über die verständliche Zurückhaltung vieler Besucher nach der Pandemie, die noch nicht vorbei ist.

Matthias Kirschnereit war gerade ein paar Stunden vor Konzertbeginn aus Japan gekommen, mit dem Zug von Hamburg nach Leer gereist und traf rechtzeitig ein, um Rudolf Buchbinder zu begrüßen

Wenn Musiker engagiert werden, dann sendet das Management zuvor einen „Technical Rider“, das ist ein Papier, in dem die technischen Anforderungen für den Auftritt notiert werden, in dem aber auch besondere Wünsche für die Zeit vor und nach dem Auftritt notiert sind. Manche wünschen sich ein kaltes Getränk, Kaffee, bestimmtes Obst oder ein bestimmtes Essen. Für Buchbinder lautete die Handlungsanweisung: vor dem Auftritt einen Expresso, danach ein Glas Whisky on the rocks einer ganz bestimmten Sorte. Aber Buchbinder wusste anscheinend nichts von dieser Anweisung und lehnte den Expresso verwundert ab. Den habe er noch nie vor einem Auftritt getrunken. Und als man gestehen musste, die bestimmte Sorte Whisky sei bestellt worden, aber auf dem Postweg hängen geblieben, da war das auch kein Problem für den 75-Jährigen.

Noch ein Gast des Gezeitenkonzertes aus der Musikbranche: Filmkomponist Klaus Badelt

Während ihn solche Dinge offenbar nur beiläufig interessierten, war er indes sehr genau mit seiner Probe. Die wollte er doch bitteschön allein auf der Bühne zubringen – und zwar ganz allein. Ohne Jackett saß er dann am Flügel des Vereins junger Kaufleute und ging sein Programm noch einmal durch. Das Ergebnis dieser letzten Probe durften die Besucher dann während des Konzertes genießen. Das war mit Bachs „Englischer Suite“ in g-Moll, Franz Schuberts 1. Sammlung mit Impromptus op. 90 und schließlich Beethovens „Appassionata“, der Klaviersonate in f-Moll, musikalisch überreich bestückt. Und während der Pianist am spärlich beleuchteten Klavier saß, hatte man angesichts der wunderbaren Musik ständig ein Bild vor Augen: kosmischer Sternenglanz. So müsste er klingen, wenn er denn klingen könnte.

Buchstäblich zwischen Tür und Angel trafen Rudolf Buchbinder und Klaus Badelt aufeinander

Auch bei den Zugaben ließ Buchbinder sich nicht allzu lange bitten. Der 3. Satz der Beethoven’schen Klaviersonate Nr. 17, der sogenannten „Sturmsonate“, erklang in genau demselben Duktus reifer Perfektion wie die sich anschließende „Johann Strauss-Paraphrase“. Und hinterher konnte man sich als Besucher sicher sein, einen Abend mit einem der ganz Großen des Musikbetriebs verbracht zu haben, von denen es heute nicht mehr allzu viele gibt.

Im Saal saß übrigens noch ein Musiker, nahezu unbeobachtet und unbehelligt: der Filmkomponist Klaus Badelt, bekannt durch seine bislang wohl beliebteste Musik zum ersten Teil der „Pirates of the Caribbean“-Serie „Fluch der Karibik“. Er hatte von Los Angeles aus per Internet gebucht und war begeistert, dass in Ostfriesland solch hochkarätige Konzerte veranstaltet würden. In der Pause stand er kurz mit Matthias Kirschnereit zusammen. Was die beiden da verhandelten? Kein Kommentar.