Schlaglichter auf das, was ist – und das, was war
Das Landesarchiv in Aurich feierte sein 150-jähriges Bestehen mit einer Tagung
Aurich. Drei Mal gab es im 19. Jahrhundert den Versuch, das in Ostfriesland befindliche Archiv mit den Urkunden und Dokumenten der ostfriesischen Geschichte aus der Region abzuziehen. Diese Absichten scheiterten drei Mal, da die Ostfriesen in Ablehnung der Pläne eine geschlossene Phalanx bildeten und energisch dafür plädierten, dass die historischen Quellen in der Nähe blieben. Zwar bekriegten sich die Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer und das damalige Staatsarchiv unverdrossen, wenn es darum ging, ob es nicht sinnvoll sei, alle vorhandenen Akten an einem Ort zentral zu sammeln – und zwar in Aurich, nicht in Emden. Doch in der Not schloss man sich eben zusammen und dokumentierte damit, dass man durchaus in der Lage war, mit einer Stimme zu sprechen.
In seinem Blick zurück in die Gründungszeit des Niedersächsischen Landesarchivs Abteilung Aurich, ehemals das Staatsarchiv, ließ der Leiter der Einrichtung, Dr. Michael Hermann, noch einmal wichtige Phasen der Entwicklung aus 150 Jahren Revue passieren (KiE berichtete am 4. April 2022).
Hermann hatte anlässlich des Jubiläums eine Tagung mit insgesamt sieben Vorträgen unter dem fragenden Titel „Archive als Mittelpunkt und Träger für die Erforschung der ostfriesischen Geschichte?“ vorbereitet, scheute sich dabei aber nicht, auch Blicke über den unmittelbaren thematischen Tellerrand zu werfen.
Sammeln als soziologisches Phänomen
So hörte man auch einiges zum Themenkreis „Sammeln“, denn immer wieder stünden Menschen im Archiv, um dort ihre privaten Sammlungen zu deponieren. Was macht man damit? Dr. Nina Hennig, Geschäftsführerin des Museumsverbundes Ostfriesland, in dem knapp 60 „kleine“ Häuser, teils ehrenamtlich betrieben, zusammengeschlossen sind, kennt das Problem und weiß, dass „fast 95 Prozent der Deutschen sammeln“. Das Sammeln sei somit ein bedeutendes soziologisches Phänomen. Sie gab Tipps, wie man sammelt, machte aber auch deutlich, dass schlimmstenfalls eine Anhäufung von Dingen, so sie nicht konzeptionell geordnet und damit erschließbar sei, auf Dauer wohl keinen Bestand habe.
Ja zum Kommunal-Archiv!
Eine kommunale Einrichtung ist das Archiv von Norderney, die an das Inselmuseum gekoppelt ist. Archiv- und Museumsleiter ist Matthias Pausch berichtete von seinen Erfahrungen in der Doppelposition. Als ein nicht zu unterschätzendes Element sieht Pausch die Beantwortung von Fragen, sei es von Krimi-Autoren, die der Authentizität wegen viele Details geklärt haben wollten, sei es aber auch – auf Norderney ein wesentliches Faktum – Anfragen wegen eines Aufenthaltes in einem Kinderheim oder auch wegen der Kinderlandverschickung in der Nazizeit. Nicht nur deshalb hält Pausch die Existenz von kommunalen Archiven für unverzichtbar, und er bedauert, dass Aurich, Esens und Norden ihre Archive ans Landesarchiv abgegeben hätten. „Das ist äußerst unglücklich!“
Archivieren als Aufgabe für Laien
Provenienzforscher Georg Kö stellte das Archiv der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer vor, das sich im Keller des Magazins des Ostfriesischen Landesmuseums befindet – unter sehr beengten Verhältnissen. Als „Gründungsmythos“ des Archivs sieht Kö einen Zufallsfund, den 1850 Marten Heinrich Martens in der Grimersumer Burg machte. Er fand dort Mengen von Dokumenten, Urkunden und weiteren Papieren, die entsorgt werden sollten. Martens rettete die Urkunden für die Kunst. Das sei, so Kö, die Legende der Grimersumer Kiste, die – der schieren Menge der Urkunden nach – aus mehr als nur einer Kiste bestanden habe. Das Archiv sei zumeist von Laien betreut und in dieser Zeit nur grob sortiert worden. Den größten Posten mache dabei ein Konvolut mit 469 Kisten aus, das aber keine wirkliche Systematik aufweise. Wenn andere Archive die Digitalisierung vorantreiben, bestehe für das Kunst-Archiv die größere Notwendigkeit, es zunächst einmal zu erschließen.
Suche in anderen niedersächsischen Landesarchiven
Wer nach ostfriesischen Archivalien sucht, nutzt die Möglichkeiten der Region. Dass es auch lohnt, zentral im Niedersächsischen Landesarchiv oder im Archiv des Hannoverschen Königshauses nachzuforschen, machten Kirsten Hoffmann (Landesarchiv Aurich) und Dr. Nicolas Rügge (Landesarchiv Hannover) deutlich. Nachlässe seien archiviert in der entsprechenden Datenbank des Bundesarchivs. Man könne über die Plattform „Arcinsys“ seine Recherchen per Internet unternehmen und werde überrascht sein über die Fülle an Material, das zu finden sei.
Heimatforschung und Wissenschaft
Die historische Forschung in einer universitätsfernen Region war das Thema von Dr. Paul Weßels (Leiter der Landschaftsbibliothek). Beginnend mit den beiden Chronisten Eggerik Beninga und Ubbo Emmius führte er die Tagungsteilnehmer in einem Parforce-Ritt durch die Historie der ostfriesischen Geschichtsforschung, die bis ins in die Mitte des 20. Jahrhundert im wesentlichen Heimatforschung gewesen sei. Erst mit der Generation von Hajo van Lengen, Walter Deeters, Martin Tielke und Heinrich Schmidt könne man von einer wissenschaftlichen Neuaufstellung sprechen.
Der alltägliche Gang über die Grenze
Über ein aktuelles deutsch-niederländisches Projekt berichteten zwei niederländische Doktoranden, die mit ihrer Professorin Dr. Raingard Esser an der Tagung teilnahmen. Meggy Lennaerts und Gijs Altena befassen sich mit dem Projekt „Grenzgänger“ für das sie das Niedersächsische Landesarchiv nutzen. Die hinterfragen das alltägliche Hin und Her der Grenzbevölkerung in den Bereichen Sprache und Geschichte (KiE berichtete am 29. März 2022) über rund vier Jahrhunderte hinweg. Dabei geht es unter anderem um die Frage der Grenzziehung oder darum wer wie lange Niederländisch sprach und in welchem Kontext.