Bewegtes Komponieren in der Gegenwart

Gezeitenkonzerte luden zum Komponistenporträt in das Atrium der Kunsthalle

Emden. Sven Daigger (geboren 1984) hatte nicht nur seine Musik mitgebracht, sondern auch seine Frau und den erst wenige Tage alten Sohn sowie seine Eltern. Die Familie saß im Plenum, seine Musik aber lag in den Händen von vier Mitgliedern des Zafraan Ensembles. Und dort war sie auch sehr gut aufgehoben.

Intensives Proben vor dem Konzert im Atrium der Kunsthalle: das Zafraan-Ensemble. Vor dem großen Aussichtsfenster hängt eine Installation von Sarah von Sonsbeeck aus der Ostfriesland Biennale-Ausstellung 2022. Bilder: Karlheinz Krämer

Daigger, Komponist der jungen Generation, kann offenbar alles schreiben – Oper, Orchesterwerke, Kammermusik in unterschiedlichster Besetzung. Ein riesiges Werk hat der 38-Jährige schon erarbeitet. Da war es im Komponistenporträt keine Kleinigkeit, Passendes für eine gut zweistündige Vorstellung herauszustellen. Daigger wählte kleinere Stücke, die er dann in Sinneinheiten zusammenband, so dass zwei, drei oder sogar vier kürzere Musikstücke zu größeren Einheiten gekoppelt wurden. Diese Methodik war spannend und wirkte, als würde man mehrsätzige Stücke in individueller Besetzung hören.

Jetzt wurde es ernst: das Zafraan Ensemble spielte vor gut 40 Zuhörern

Im Gespräch mit Daigger führte der organisatorische Leiter der Gezeitenkonzerte, Raoul-Philip Schmidt, durch das Programm. Dabei erfuhr man viele Details aus dem Arbeitsleben des in Berlin und Weimar lebenden Tonkünstlers. Etwa – dass er seine Kompositionen von Hand schreibt, ehe er sie in den Computer weiterleitet. Oder – dass er auch gerne im Café komponiert. Oder – dass er ein Faible für die Oper hat, weil dort so viele Künste aufeinandertreffen. Oder – dass er immer einen Auftrag nach dem anderen arbeitet. „An mehreren Stücken gleichzeitig zu arbeiten, kann ich nicht.“

Wer steht wann wo? Mitglieder des Ensembles beraten mit dem Komponisten Sven Daigger den jeweiligen Standort der Musiker im Raum

Wie hört sich die Musik Daiggers nun aber an? Sie ist stark dinglich und orientiert sich an nachvollziehbaren Themen: das Fließen des Stromes, Bewegung, Spuren – das ist, was sein Interesse findet, und was er anregend in seinen Werken umsetzt. Diese Beobachtungen und Erfahrungen finden in den Kompositionen eine deskriptive und damit auch sehr plastische Umsetzung. „Move“ zum Beispiel ist ein eindrucksvolles Stück, das zeigt, welche Bandbreite an tönenden Möglichkeiten das Cello hat. Daneben stehen Beiträge, die wie kleine abstrakte Plastiken wirken. Dazu zählten die zahlreichen Miniaturen, die Daigger für Soloinstrumente geschrieben hat, Werke, die trotz kurzer Aufführungsdauer ein Feuer zu entfachen vermögen.

Hatte an diesem Abend den umfangreichsten Einsatz: Cellist Martin Smith

Die meist gestellte Publikumsfrage war die, wie diese Musik überhaupt notiert wird, sodass die Instrumentalisten das Notenbild schnell erfassen können. Daigger verwies darauf, dass die moderne Notation in den 60er und 70er Jahren unter anderem von dem Komponisten-Kollegen Helmut Lachenmann entwickelt wurde. Der sei inzwischen wieder davon abgewichen, aber dennoch gebe es vielfältige Möglichkeiten, eine Verständigung zwischen Komponisten, Notenwerk und Spieler herzustellen. Dass das funktioniert, zeigten Liam Mallett (Flöte), Miguel Pérez Iñesta (Klarinette), Martin Smith (Violoncello) und Clemens Hund-Göschel (Klavier) vom Zafraan-Ensemble, die mit konstanter Präsenz brillierten und auch die räumlichen Möglichkeiten des Kunsthallen-Atriums für das Konzert nutzten, das dadurch einen Performance-Charakter bekam.

Gab dem Publikum Einblicke in seine Arbeit: Komponist Sven Daigger

Daiggers Musik ist von Klangfarben und Geräuschen bestimmt, die die Instrumente selber erzeugen: seien es hauchende Flöten oder Cello-Saiten, die mit umgedrehtem Bogen gespielt werden. Doch bei aller Modernität sind die aus einzelnen Skizzen entstandenen Werke eindrucksvoll – nicht, um sie jeden Tag zu hören, aber spannend in ihrer Darstellung des bewegten Komponierens in der Gegenwart.