Zwischen Sentiment und Agitation

Soloabend mit dem Pianisten Matthias Kirschnereit in der Kirche zu Ditzum

Ditzum. Aus der Ditzumer Kirche dröhnt ein Klavier-Gewitter. Während sich die Gäste rund um das Gebäude herum ergehen, im nahegelegenen Tante Emma Laden ein Eis oder die berühmten „Schaf-Kötel“, kleine Lakritz-Bonbons, kaufen, probt Matthias Kirschnereit noch einige Passagen aus Beethovens „Mondschein-Sonate“. Wer direkt auf Höhe der offenen Kirchentür steht, der erlebt quasi ein Vorkonzert.

Ditzum bedeutet immer eine höchst beliebte Überfahrt mit der Fähre. Die meisten Gäste des Solo-Konzertes haben davon Gebrauch gemacht. Einige sind schon früher zum Fisch-Essen über die Ems gekommen. Alles ist ganz entspannt. Ditzum bedeutet Urlaubs-Feeling, noch dazu bei bestem Wetter.

Matthias Kirschnereit hat seine Probe beendet, tritt strahlend aus der Tür, während Tamme Bokelmann rasch im Kirchenraum verschwindet, um die Stimmung des Flügels ein letztes Mal zu kontrollieren. Routine im Team. Gute Laune überall. Rund 190 Besucher freuen sich auf das ausverkaufte Konzert. Alt-Landschaftspräsident Helmut Collmann eröffnet den Abend gekonnt auf Plattdeutsch und ruft den Pianisten auf die Bühne.

Kirschnereit hat ein Programm mit bekannten und weniger bekannten Werken Beethovens zusammengestellt. Zur Eröffnung gibt es eine hinreißende Polonaise von 1815, Vorläufer der Chopin-Polonaisen. Und manchmal meint man in einigen Wendungen Chopin zu hören, der sich ganz offenbar von Beethoven hat anregen lassen.

Der Pianist wirkt ebenso entspannt wie das Publikum. Der Funke muss nicht erst überspringen. Er flammt auf in dem Moment, in dem Kirschnereit das Podium betritt. Und er wird an diesem Abend auch nicht erlöschen.

Ein „Allegretto“, das wohl 1798 entstand und sich stark kontrastreich expressiv ergeht, verknüpft Kirschnereit mit der „Grande Sonate pathétique“ aus demselben Jahr, die denselben Geist atmet. Kirschnereit ist nicht nur ein begnadeter Pianist, sondern ein ebensolcher Moderator, der bekennt, dass er erst spät zu Beethoven gefunden habe, ihn für sich erst entdecken musste. Er berichtet aber auch, dass Beethovens Musik zu seiner Zeit ein Schock für die Hörer gewesen sein muss. Solch leidenschaftliche Empfindungen in Musik gegossen, das war neu. Und so glaubt man einem Zeitgenossen Beethovens, der notiert hat: „In diesen erschütternden Aufregungen wurde mein Empfindungsvermögen sehr getroffen.“

Aber ob er nun Beethoven spielt, Mozart oder Chopin. Kirschnereit reißt das Publikum hin. Und dass liegt wohl daran, dass er es den Hörern so leicht macht. Der lockeren Ansprache folgt das ebenso unangestrengt wirkende Spiel. Nur ist das alles eben kein Kinderspiel, sondern ein sehr ernst genommener Beruf.

Als „Charakter-Variationen“ bezeichnet Kirschnereit das, was nach der Pause den großen Schlussakt des Konzertes einläutet. „Sechs Variationen für Klavier in F-Dur“. Der spannende Ritt durch die Tonarten ist fast zu schnell vorbei, da setzt der Pianist zum Höhepunkt des Abends an, zur „Sonata quasi una Fantasia“, im Volksmund „Mondscheinsonate“ genannt. „Magisch“ nennt Kirschnereit diese emphatische Komposition, die er mit der nötigen Mischung aus Sentiment und Ungestüm wunderschön spielt.

Interessanterweise beginnt Kirschnereit seine Zugaben mit Chopins Nocturne in cis-Moll. Das war auch die Zugabe von Alexander Krichel bei seinem Konzert in Wittmund (6. Juli). In beiden Fällen handelt es sich um eine beruhigende Geste nach einem aufwühlenden Konzertabschluss – bei Kirschnereit das „Presto agitato“ der Klaviersonate Nr. 14, bei Krichel das „Große Tor von Kiew“ aus den „Bildern einer Ausstellung“ von Mussorgski, Kirschnereit weitet dann den Blick aber mit Blick auf das zehnjährige Bestehen der Gezeitenkonzerte, indem er mit „Mouvement“ aus den „Images“ von Claude Debussy symbolisch seine Wünsche für die nächsten zehn Jahre Gezeitenkonzerte bewegt. Mit dem gefühlvollen „Abschiedswalzer“ von Johannes Brahms ist das Konzert dann aber auch endgültig vorbei. Kirschnereit hat mit der dreifachen Zugabe die Erwartungen des Publikums erfüllt, denen das angebliche dreimalige Ostfriesenrecht im Kopf herumschwirren mag. Das Tee-Präsent in der Hand entschwindet er in die Künstler-Garderobe.

„Es ist immer wieder faszinierend, ihm zuzuhören“, sagt eine Dame aus dem Hintergrund, und bekommt die Antwort: „Es war wunderbar.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.