Erinnernd, erkundend, in wehmütigem Schmerz

Emden. Ein Bildband und ein Prosawerk – und beides handelt von demselben Menschen – dem Emder Heinrich Wehkamp (1914 bis 2003), Schriftsetzer, Grafiker, Designer, Maler, Zeichner, und seiner Familie. Geschrieben und herausgegeben wurden die beiden Bände vom Sohn, Professor Dr. Dr. Karl-Heinz Wehkamp (Bremen). Bemerkenswert: Beide Bücher führen auf ihre Art in das alte Emden – das eine erinnernd und erkundend, das andere in wehmütigem Schmerz über die verlorene Stadt.

Professor Dr. Dr. Karl-Heinz Wehkamp mit dem zweifachen Ertrag der Corona-Zeit

Karl-Heinz Wehkamp ist beruflich viel unterwegs. Der Medizinethiker und Professor für Gesundheitswissenschaften hat aber dennoch immer Zeit gefunden, in Emden vorbeizusehen und den Vater zu besuchen. In langen Gesprächen konnte er so manches aus der Familiengeschichte erfahren. Anderes recherchierte er aufwendig selber. Für den Mediziner klärten sich dabei immer mehr Sachverhalte aus der Vergangenheit, die er nicht gewusst oder vorher nicht registriert hatte. Diese Gespräche wurden zur Grundlage des Buches „German Boy. Eine biographische Erkundung“.

Aber die Bücher bedingen sich auch gegenseitig. Das eine erklärt das andere. Das „andere“ ist ein Spaziergang durch das alte Emden vor 1944 – feine Federzeichnungen, manche koloriert, dann und wann ein Aquarell eingestreut. Es handelt sich um das Faksimile eines Heftes, in dem sich 42 Zeichnungen des alten Emdens befinden – eine Sammlung, die Heinrich Wehkamp in Jahrzehnten akribischer Arbeit aufs Papier gebannt hat. Warum sein Vater so viel Zeit investierte und so sorgsam arbeitete, erschloss sich Karl-Heinz Wehkamp erst nach dem Tod von Heinrich.

Und damit begleitet der Leser den Protagonisten in die Vergangenheit und erlebt jenen 6. September 1944 hautnah von der Marine-Flakbatterie Constantia aus. Dort ist Obermaat der Marine Heinrich Wehkamp eingesetzt, Emden vor den angreifenden Fliegern der Engländer und Kanadier zu schützen. Die Flak tue dies „mit wechselndem Erfolg“ heißt es in der kurzen Einleitung, die den besagten 42 Zeichnungen vorangestellt ist. Doch am 6. September erhält die Flak-Stellung keinen Schießbefehl. So kann der feindliche Kundschafter, eine „Pathfinder“, ungehindert ihren „Christbaum“ setzen und mit dieser Markierung das Angriffsgebiet für die nachfolgenden Flieger kennzeichnen.

Kein Schießbefehl! Die Flak unwirksam! Die Mannschaft wie gelähmt angesichts der Vernichtung der Stadt, die sie tatenlos mit ansehen muss. Schuldgefühle. Bei Heinrich Wehkamp muss das ein Trauma verursacht haben, das er jedoch nicht nach außen mitteilt. „Aber er fand einen Weg ohne Worte, um seinen Gefühlen Ausdruck zu geben“, schreibt Karl-Heinz Wehkamp. „Er schuf Bilder der Stadt, wie er sie sich erhalten wollte.“ Im Buch „Das alte Emden. Zeichnungen der Erinnerung des Heinrich Wehkamp“ sind sie nun wieder da:

Die Frührenaissance-Häuser am Alten Markt, die Vrouw Johanna-Mühle, die Gänsebrücke am Hinter Tief, der Stigt Zwischen beiden Bleichen, noch bevor das Apollo-Kino und die AOK hier errichtet wurden, die Klunderburg, die Große Kirche – und natürlich das Renaissance-Rathaus, dessen Verlust am 6. September Heinrich Wehkamp besonders beklagte. Eröffnet aber wird das Faksimile durch das Stadtwappen Engelke up de Mür, das der damalige König Maximilian der Stadt Emden 1495 verlieh und dessen Vergabe er sich fürstlich bezahlen ließ.

Es sind bekannte Bilder, aber sie sind mit so viel Aufwand und inniger Genauigkeit ins Bild gesetzt, dass man Heimweh bekommen könnte – nach diesem Emden vor seiner Zerstörung. Aber das entsprach wohl auch genau der Intention Wehkamps. Allerdings hielt er zu Lebzeiten die Arbeiten zurück. Er malte sie nur für sich, wollte sie nicht zeigen oder ausstellen oder publizieren. So übermittelt es der Sohn. Sein Vater habe in seinen feinen Arbeiten das alte Emden nur für sich wieder zum Leben erwecken wollen.

„German Boy“ hingegen ist ein Blick des Autoren selbst auf die Familiengeschichte, in der die einzelnen Generationen eng miteinander verflochten werden. Dabei hat Wehkamp insbesondere seinem Großvater Folkert, den er selber nie kennenlernen durfte, nachgespürt und dessen Vita eingearbeitet. Aber der Lebensweg des Vaters ist der Rote Faden, der durch das Buch leitet. Und es gibt Parallelen zwischen dem Leben der Eltern, der Großeltern. „Die Geschichte wiederholt sich“ ist das 20. Kapitel überschrieben. In gewisser Weise trifft das auch auf Karl-Heinz Wehkamp zu. Dessen eigene Anfangsjahre finden sich ebenfalls eingebunden in die Lebenswege der Vorfahren – die glückliche Kindheit, Schulleben und vielfältige Empfindungen finden deutlichen Ausdruck.

Karl-Heinz Wehkamp hat mit seinem Erstling „German Boy“ ein ungewöhnliches Projekt in der Corona-Zeit realisiert. Dabei ist ihm – in nur einem Dreivierteljahr – ein Buch gelungen, das spannend ist, so dass man sich immer wieder darin festliest. Vor allem gelingt es ihm in seiner „biographischen Erkundung“, die immer wieder die Zeitstufen wechselt und damit Nähe und Ferne suggeriert, Familiengeschichte zu schreiben, indem er sich von Gegenständen anregen lässt. Diese werden zum Ausgangspunkt seiner Nachforschungen. Dazu zählt etwa eine chinesische Zuckerdose, der Malkasten des Vaters oder ein handschriftlicher Brief mit einer Todesnachricht. Diese Dinge tragen – bei aller Warmherzigkeit der Beschreibung – doch dazu bei, Distanz halten zu können und quasi aus der Vogelschau Vorkommnisse in den Blick zu nehmen. Die Nähe, die das Buch angenehm macht, ergibt sich aber daraus, dass sich der Leser in den geschilderten „Räumlichkeiten“ und mit den allgemeingültigen Erfahrungen, die er den Lebensläufen der Protagonisten entnehmen und individuell ummünzen kann, wohl fühlt.

► „Das alte Emden“, herausgegeben von Karl-Heinz Wehkamp, 94 Seiten, Verlag Königshausen & Neumann, ISBN 13-978 382 607 52 30. Das Buch kostet 12,80 Euro.

► Karl-Heinz Wehkamp, German Boy. Eine biographische Erkundung, 272 Seiten, Verlag Königshausen & Neumann, ISBN 13-978 382 607 51 55. Das Buch kostet 24,80 Euro.



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