Hochkomplexe Textur

Das 37. Konzert der „Gezeiten“ fand im Fährhaus am Borkumterminal statt

Emden. Das war eine geradezu idealtypische konzertante Lesung, die da am Donnerstag im Fährhaus am Hafen stattfand. Dominique Horwitz lief dabei zu ganz großer Form auf, als es um die Geschichte einer gescheiterten Ehe ging, in der sich der Ehemann in einen Wahn steigert und seine Frau ersticht.

Ankommen. Beste Laune bei Dominique Horwitz und Raoul-Philip Schmidt, der an diesem Tag als Beleuchter einspringen musste.
Bilder: Karlheinz Krämer
Erste Probe auf der Bühne im Fährhaus

Horwitz las Tolstois „Kreutzersonate“, und er tobte, geiferte, erzürnte sich immer aufs Neue, brüllte, gestikulierte – kurz: Er las den Text nicht, sondern er spielte ihn. Das ist es, was man sich von einer Lesung wünscht, wenn ein Schauspieler auf der Bühne steht. Und Horwitz erfüllte diese Wünsche zur Gänze und gestaltete die „Kreutzersonate“ zu einem sich ständig steigernden Eifersuchtsdrama.

Nun wird es ernst: Edouard Tachalow und Rosa Khlebnikova

Dabei standen ihm zwei Musiker zur Seite – Edouard Tachalow (Violine) und Rosa Khlebnikova (Klavier), die Auszüge aus verschiedenen Violinsonaten von Ludwig van Beethoven spielten, wobei die Violinsonate A-Dur, op. 47, die „Kreutzer-Sonate“, im Mittelpunkt stand, die Tolstoi als Inspiration für seine Novelle diente. Und es scheint, dass der russische Dichter die in der Musik gebündelten Emotionen als Stimmungsbilder für seine Darstellung nutzte.

Besticht nur Mimik und Gestik: Dominique Horwitz liest
Die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten mit einer Hand ist bestechend
Da wird es noch etwas lauter: Horwitz als verblendeter Ehemann

Musik und Text wurden von den drei Künstlern eng miteinander und ineinander verwoben, so dass eine Art von Überblendtechnik entstand, die die Zusammenhänge zwischen Wort und Ton auf das Engste verknüpfte. Es entstand eine hochkomplexe Textur, die durch den extrovertierten Vortrag des Schauspielers einen reißenden Strom äußerster Spannung erzeugte – selbst für den, der die Novelle und ihren Ausgang kannte.

Mit ganzem Körpereinsatz
Und dann wird es hässlich

Edouard Tachalow und Rosa Khlebnikova bildeten ein wohl abgestimmtes Team, deren Einsätze stets punktgenau erfolgten. Der Struktur des Vorhabens gehorchend, waren sie – besonders im ersten Teil – gezwungen, manchen Satz schon nach wenigen Takten wieder abzubrechen. Erst im zweiten Teil des Abends erhielten sie tatsächlich Gelegenheit, ein längeres Stück aus der „Kreutzersonate“ zu spielen, wobei ihre außerordentliche musikalische Qualität nicht erst hierbei deutlich wurde.

Sich auf ein derartig kompliziertes Konstrukt einzulassen, braucht es schon Nerven. Doch alles verlief wie mit leichter Hand entwickelt, und die bestens aufgelegten Akteure erhielten lang anhaltenden Applaus für ihr Kammerspiel mit tiefgründigem Inhalt.