Die klare Luft des dichterischen Atmens

Serie über die Schätze aus der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 9

Von Dr. Michael Weichenhan

„Will in Bädern und in Schenken
Heil’ger Hafis, dein gedenken,
Wenn den Schleyer Liebchen lüftet,
Schüttelnd Ambralocken düftet.

Ja, des Dichters Liebeflüstern
Mache selbst die Huris lüstern.
Wolltet ihr ihm dies beneiden
Oder etwa gar verleiden,

Wisset nur, daß Dichterworte
Um des Paradieses Pforte
Immer leise klopfend schweben,
Sich erbittend ew’ges Leben.“

Frauke Fast mit dem ersten Band des „Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis“ in der Übersetzung von Joseph von Hammer.
Bild: Udo Bleeker

So dichtet Goethe, ein ergrauter Mann im 65. Lebensjahr, in dem Gedicht, das später die Sammlung „West-östlicher Divan“ (1819) einleiten sollte. Die Begeisterung für „Wein, Weib und Gesang“ und die Sicherheit, mit der hier die Kraft poetischer Sprache zum Ausdruck gebracht wird, hatte ein Geschenk ausgelöst, das ihm sein Verleger Johann Friedrich Cotta im Frühjahr 1814 gemacht hatte: Die kommentierte Übersetzung der Gedichte des persischen Dichters Mohammed Schams ad-Din Hafiz (14. Jahrhundert) unter dem Titel „Der Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis“, die der in Wien ansässige Orientalist Joseph von Hammer (1774 bis 1856) angefertigt hatte. In dieser Übersetzung, deren Bedeutung sich kaum hoch genug veranschlagen lässt, wollen wir heute ein wenig stöbern. Die Johannes a Lasco Bibliothek besitzt unter der Signatur Philos. 8° 834 ein Exemplar der zweibändigen Ausgabe, die ohne Zweifel ein prächtiges Tor in die Welt der orientalischen Literatur darstellt – nicht zuletzt zum Spätwerk Goethes: War doch der „heilige Hafis“ ihm, der unter Vereinsamung und Müdigkeit gelitten hatte, zur belebenden Inspirationsquelle geworden.

Joseph von Hammer im Alter von 69 Jahren; Bleistiftzeichnung von Bibliotheksmitarbeiterin Ewa Emery nach einer Lithographie von Joseph Kriehuber (1843)

Joseph von Hammer stammte aus einer kinderreichen Beamtenfamilie; sein Talent wurde durch eine strenge Schule der „Orientalischen Akademie“ in Wien gefördert und geformt, die er ab seinem 15. Lebensjahr besuchte. Die Akademie war 1754 gegründet worden, um für den diplomatischen Verkehr, insbesondere mit dem Osmanischen Reich, Dolmetscher und sprachkundige Diplomaten heranzubilden. Unterrichtet wurden Latein, Französisch, Italienisch, Türkisch, Persisch und Arabisch, darüber hinaus Mathematik, Physik und Geographie. Wie viele reichlich begabte Schüler klagte Hammer später über den harten Drill der Schule, aber zum Erfolg hatte er zweifellos geführt: Nach fünf Jahren waren die Schüler in der Lage, den osmanischen Botschafter mit auf Türkisch abgefassten Reden und selbst verfassten Gedichten auf Persisch und Arabisch zu beeindrucken.

Zunächst schlug Hammer eine diplomatische Laufbahn ein, ab 1799 hielt er sich in Istanbul auf, wo er mit der Übersetzung der Dichtungen des Hafiz begann. Nach seiner Rückkehr nach Wien im Jahre 1807 betrat er nie wieder den Boden des Orients, vor allem bedauerte er, das von ihm voller Sehnsucht verklärte Persien niemals betreten zu haben, Heimat des von ihm geliebten Hafiz. Die von ihm angestrebte Diplomatenkarriere scheiterte an all zu großer geistiger Unabhängigkeit. Berühmt ist Hammer als Historiker des Osmanischen Reiches und als rastloser Vermittler zwischen Orient und Okzident geworden, der zahlreiche arabische, persische und türkische Texte edierte und einem an den antiken Autoren geschulten Publikum nahezubringen versuchte.

Hammer war nicht nur ein überragender Gelehrter von erstaunlicher Produktivität, er war auch ein gewandter Dichter, wie nicht zuletzt seine Übersetzung des Hafiz zeigt. Er übertrug nicht bloß die Worte in eine andere Sprache, sondern schuf Texte, die nach Poesie schmecken, nicht nach einer beflissenen Übersetzung. Sie klingen. Den Leser sprechen sie unmittelbar an und vermitteln ihm das Gefühl, ein Original vor sich zu haben.

Der Meisterleser Goethe liefert dafür das stärkste Argument. Denn er, der kein Persisch konnte, war von den Dichtungen des Hafiz in Hammers Übersetzung fasziniert, und zwar in einem solchen Maße, dass aus dieser Begegnung mit dem Dichter aus dem fernen Schiraz des 14. Jahrhunderts seine umfangreichste Sammlung von Gedichten hervorging, eben der „West-östliche Divan“. Ermattung und Resignation der letzten Jahre schienen gleichsam weggeblasen und die dichterische Gabe zurückgekehrt.

Goethe fand in den zwei Bänden Gedichte wie dieses, das die Schönheit des Vergänglichen pries und zum Genuss dessen aufforderte, was nur Augenblicke währt – und darum Glück genannt zu werden verdient (Band 1, S. 335f.):

Schön sind die Rosen fürwahr!
Nichts schöner ist.
Schön! Wenn dir bei der Hand
Der Becher ist.
Auf und trinke den Wein
Im Rosenbeet,
Weil die Dauer der Rosʼ
So flüchtig ist.
Itzt sind die Tage der Lust,
Genieße, genieß!
Weil in den Muscheln nicht stets
Die Perle ist.
Welch ein seltener Pfad!
Der Liebe Pfad,
Wo der Führende selbst
Verirret ist.
Willst du leben mit uns,
Waschʼ aus dein Buch,
Weil, was Liebe dich lehrt,
Im Buch nicht ist.
Hörʼ mich, bringe dein Herz
Der Schönen dar,
Welche ohne Geschmeidʼ
Die Schönste ist. […]

Hammer hatte im Vorwort zu seiner Übersetzung darauf aufmerksam gemacht, dass die Verse des Hafiz bei den strengen Frommen seiner Zeit als anstößig empfunden worden waren: bekanntlich wird in einer – späten – Sure des Koran der Weingenuss zu „Gräuel“ und „Teufelswerk“ gerechnet, was oft als generelles Verbot des Konsums alkoholischer Getränke verstanden wurde – und noch immer wird. Und auch der Preis der recht frei aufgefassten Liebe fand nicht gerade ungeteilte Zustimmung. Man konnte in der Dichtung des Hafiz all das zur Sprache gebracht finden, was offiziell untersagt war. In der Poesie hat schon immer das Verbotene seinen Platz behauptet. Dazu passen die zahlreichen Seitenhiebe auf Frömmler, Heuchler und Pedanten, die Hafiz zutiefst verachtete.

Aber Hammer kannte auch zahlreiche Kommentare, die in der Verherrlichung (nicht allein) weiblicher Schönheit und des Weines Sinnbilder für die Freuden des Paradieses, für die Liebe zu Gott sahen. Hafiz, ein Mystiker, der sich der Bilder aus der Welt der Sinne bediente, um auf das hinzuweisen, was unsichtbar und unaussprechlich ist? Deutete Hafiz, traditionell „lisan al-ġaib“ genannt, „die Zunge des Verborgenen“, bei Hammer als „mystische Zunge“ wiedergegeben, in den lebensvollen Bildern auf etwas hin, worüber man eben nicht sprechen kann, sondern was man leben muss?

Wie im Abendland bewegten sich auch die Mystiker im Islam auf dem schmalen Pfad zwischen intensiver Gottesliebe und abgründiger Ketzerei. Hammer selbst plädierte dafür, weder der einen noch der anderen Interpretation einseitig zu folgen, sondern sie als zwei Aspekte zu unterscheiden und miteinander zu verbinden. Nicht zuletzt Goethe ist ihm darin gefolgt. Denn die Worte des Dichters, so heißt es in dem eingangs angeführten Einleitungsgedicht seines Divan, ’schweben um des Paradieses Pforte‘, auch, ja gerade dann, wenn sie das Lied des Irdischen singen.

Titelblatt von „Der Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis“, übersetzt von Joseph von Hammer, Band 1, Stuttgart und Tübingen 1812. – Das arabische Wort „Diwan“ (arabisch: dīwān) bedeutet die Versammlung bzw. die Sammlung von Texten. „Hafis“ (arabisch: ḥāfiẓ) ist der Ehrenname einer Person, die den gesamten Koran auswendig beherrscht. Der Name „Schemsed-din“, von arabisch šams ad-dīn, bedeutet: Sonne des Glaubens.

Es fiel Goethe nicht schwer, seine Person und die des Dichters aus dem fernen Persien in Beziehungen zu setzen, dessen geheimnisvolle Liebesdichtung ihn so stark ansprach, dass er sich als dessen „Zwilling“ empfand. Hafiz war Zeuge der Eroberungen des wegen seines skrupellosen Macht- und Eroberungsdranges berüchtigten Timur Leng bzw. Tamerlan (1336 bis 1405). Hammer bemerkt dazu in seiner Vorrede (S. XXXf.): „Die Gräuel politischer Stürme, welch[e] damals den Orient erschütterten, bilden einen merkwürdigen Contrast mit der ungetrübten Heiterkeit des Dichters, der, während rund um ihn her Reiche zusammenstürzten, und Usurpatoren donnernd empor schoßen, mit ungestörtem Frohsinn von Nachtigall und Rosen, von Wein und Liebe sang.“

Allein der Ausdruck „Heiterkeit des Dichters“ klingt, als sei er insgeheim auf den Weimarer Autor gemünzt. Hammer – wie dann auch Goethe – dachten bei dem welterschütternden Eroberer Timur selbstverständlich an Napoleon, dessen Kriege ganz Europa ins Wanken gebracht hatten. Hafiz hatte sich in stürmischen Zeiten in eine innere Welt zurückziehen können. Für Goethe hingegen, den Dichter des Okzidents, bedeutete die Begegnung und Anverwandlung des Hafiz, seiner eigenen Welt gleichsam zu entfliehen.

Das Einleitungsgedicht seines Divan trägt denn auch den Titel „Hegire“, d.h. „Hidschra“, womit die Auswanderung Mohammeds aus Mekka bezeichnet wird. Und es beginnt mit einem deutlichen Bezug auf Hammers Schilderung der von Revolutionen heimgesuchten Epoche des Hafiz, die Goethe vergegenwärtigte:

„Nord und West und Süd zersplittern,
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten.“

Patriarchenluft, das war die Atmosphäre der Beduinen, von denen im ersten Buch der Bibel die Rede ist, jener Patriarchen wie Abraham, Isaak und Jakob, deren Sinnen und Denken, wie Goethe glaubte, rein und unverfälscht gewesen war. In der Dichtung des Orients, sei sie nun die eher herbe arabische oder auch die feine und kunstvolle persische eines Hafiz, fand der alternde Goethe diese klare Luft, die den dichterischen Atem freier gehen ließ. Ohne Hammers „Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis“ hätte Goethe sie nicht atmen können.

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.