Die Ästhetik banaler Dinge

Bunde. Das Atelier von Ulrich Schnelle liegt unter dem Scheunendach seines Hofes in Boen, einem Ortsteil von Bunde. Draußen rauscht der Verkehr vorbei, im Arbeitsraum aber ist es ruhig und hell. Schnelle malt in Öl auf Leinwand. Farbtuben sind überall zu finden. In einer Ecke stehen Kartons mit einem Teil seiner Werke, streng nach Rahmengröße sortiert. Auf einer Staffelei die neueren Arbeiten, die sich mit der Stofflichkeit von Plastikmüll beschäftigt. Derzeit sind es rot-weiße Absperrbänder, die in der malerischen Vergrößerung auch für rohes Fleisch und weiße Knochenmasse stehen könnten – oder für etwas ganz anderes, Abstraktes. Vorher war es ein kaputter gelber Regenschirm, dessen Überreste Schnelle in einem Mülleimer fand und in ihrer zerstörten Fasson zu faszinierenden Absonderlichkeiten komponierte, wobei die Verstrebungen zu filigranen Ästen mutieren, deren eigentliche Funktion sich in der Vergrößerung und Isolierung verschleiert.

Ulrich Schnelle in seinem Atelier in Bunde. Auf der Staffelei die abstrahierte Gegenständlichkeit eines defekten Regenschirms. Im Hintergrund Verfremdungen von Absperrbändern.

Schnelle hat einen ungewöhnlichen Lebensweg. Als Jugendlicher begann er, mit Ölfarben zu experimentieren. Er liebte den Geruch der Farben und von Terpentin. Das Material bekam er vom Freund seiner älteren Schwester. Als Leinwand nutzte er Kopfkissen aus dem Schrank der Mutter, „sehr zu deren Freunde“, wie Schnelle trocken kommentiert. Welches Sujet wählte er? „Ich habe mich damals kreuz und quer durch die Kunstgeschichte gemalt.“ Die Bilder der Maler der Künstlervereinigung „Die Brücke“, El Greco, Otto Dix, Picasso – an allem versuchte er sich und ließ sich inspirieren.

Doch nach dem Abitur war Schluss. Schnelle studierte Forstwirtschaft. Der Plan war, nach dem Abschluss ins Ausland zu gehen, um der Bundeswehr-Zeit zu entgehen. Doch es wurde ihm schnell klar: „Dieses Studium ist es nicht!“ Also ein neues, anderes. Dieses Mal an der Hochschule für Künste in Bremen. Doch der Einberufung entging er nicht. Aus dem laufenden Studium heraus, holte man ihn „Es war erschreckend, aber auch lehrreich.“ Schnelle empfehle sich, so fanden seine Vorgesetzten, für Führungspositionen, er sollte Offizier werden. Das war dann doch zu viel. Ohne das Studium wieder aufzunehmen, lebte er fortan mit anderen jungen Künstlern als Wohngemeinschaft in einer Industriehalle. „Es waren bei uns alle künstlerischen Tätigkeiten vertreten – vom Bildhauer bis zum Lithographen. Es gab viel Wechsel. Ich habe allen auf die Finger geschaut und gelernt.“

Blick ins Atelier, das in einem neu eingezogenen Zwischengeschoß des Scheunentraktes seines Hauses liegt.

Beim Wohnungswechsel in eine ehemalige Saftfabrik lernte er den Besitzer der Immobilie, einen Malermeister, kennen. Der hatte einen Job für ihn. Badezimmerwände marmorieren. Über diese Tätigkeit kam Schnelle zur Kulissen-Malerei. Künftig stattete er nun die Fahrgeschäfte von Schaustellern mit Werbetafeln aus – in Riesenformaten. „Wenn man einmal zehn Stunden in einer eiskalten Halle gestanden und mit Industrielack einen Himmel auf 30 Meter Breite gemalt hat, weiß man, dass das ein Knochenjob ist.“ Immerhin war es damals ein ziemlich einträglicher Job, der Schnelle zudem mit vielen Menschen in Kontakt brachte. Die Werbe-Maler wurden nach Motiven eingeteilt. Schnelle war zuständig für Raumschiffe und Explosionen.

Dann bekommt er die Gelegenheit, seine abstrakten Werke in Papenburg auszustellen. Der Weg in den Nordwesten beginnt. Und die Liebe zur flachen Landschaft, dem weiten Himmel, dem tiefen Horizont, dem unverstellten Blick. „Hier gibt es ein anderes Licht, ein weiches Licht. Ganz anders als anderswo.“ Dem Gedanken, sich hier niederzulassen, begegnen Kollegen mit Skepsis. Er werde scheitern, weil er keine Bilder verkaufen könne – in dieser Provinz. Das erweist sich schnell als Irrtum.

Bei dem Bildmotiv handelt es sich um einen Blick auf den Wohlstandsmüll.

Schnelle malt Dinge, die sich sehr gut verkauft – zum Beispiel seine Kleinformate mit Schafskötteln. Die tierischen Hinterlassenschaften vom Deich entstehen, weil ihm jemand gesagt hat, er müsse etwas malen, das typisch ostfriesisch sei. Muscheln und Leuchttürme sind ihm zu langweilig. Köttel von Deichschafen indes regen sein Gestaltungsvermögen an. Er gestaltet die Fundstücke in schillernden Farben, bis sich ihre wahre Konsistenz hinter ästhetischer Malerei verbirgt.

Licht und Schatten zaubern ein wundersames Stillleben des Maler-Alltags.

Da er selber mit seinen Werken in einer Galerie in München vertreten ist, hat Schnelle eine Idee. Das Haus, das er inzwischen in Boen gekauft hat, könnte man auch als Ausstellungsraum nutzen. Platz gibt es genug. Und Kollegen kennt er ja in ausreichender Zahl.

Das war vor 16 Jahren. Inzwischen hat sich das Format bewährt. Gerade wird eine neue Ausstellung vorbereitet – wofür man das Haus umräumt. Nur das Atelier Schnelles bleibt davon unberührt und bietet den Besuchern eine alternative Besichtigungsmöglichkeit mit Charme.

Der Malstock ist bei Ulrich Schnelle häufig im Gebrauch. Diesen hier nutzt er schon seit Jahrzehnten.

Ausstellungsbesucher werden im Hause Schnelle gut behandelt. Italienische Häppchen und guter Wein – das sei das mindeste, meint der Maler. „Gute Kunst und schlechter Wein – das passt nicht.“ Ihm ist es wichtig, dass jede Ausstellungseröffnung ein Fest wird. „Ich lade mir eben gerne Gäste ein.“ Und die bleiben dann häufig auch mal bis weit nach Mitternacht.

Was sich hier so bunt präsentiert, ist kein abstraktes Gemälde, sondern ein dickes Farbband, das entstanden ist durch den beständigen Abstrich der Ölfarbe unterhalb einer viel genutzten Staffelei.

► Die nächste Ausstellungseröffnung findet statt am Sonnabend, dem 16. Oktober, um 17 Uhr. Ausstellerin ist Marita Schlicker aus Cuxhaven. Unter dem Motto „secret garden“ zeigt sie Malerei und Zeichnungen. Eine Einführung gibt die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Ostfriesischen Landesmuseums Emden, Dr. Annette Kanzenbach.

► Die Ausstellung ist bis zum 16. Dezember zu sehen. Atelier Schnelle, Boenster Hauptstraße 3 in Bunde.