Politische Brüche und ihre musikalische Verarbeitung

Emder Singverein von 1805 konzertiert am Sonntag in der Martin-Luther-Kirche

Emden. Interdisziplinär ist das Konzert des Emder Singvereins von 1805 angelegt, das am Sonntag, dem 13. November, um 17 Uhr in der Martin-Luther-Kirche stattfindet. Allen Widrigkeiten zum Trotz wurde geplant, geprobt, Neues ausprobiert. Dennoch sei der Oratorienchor, der als der zweitälteste Deutschlands gelten dürfe, keineswegs unbeschadet durch die Pandemie gekommen, sagt Leiter Clemens-C. Löschmann. Viele Sänger hätten sich – manche endgültig, manche auf Zeit – verabschiedet, aber es seien auch Neue hinzugekommen. „Wir hoffen, dass es noch mehr werden!“ Derzeit sind 55 Sängerinnen und Sänger aktiv. Für ein großes Oratorium sind das zu wenige, aber es gibt genügend Alternativen. Und so ist Löschmann, selber als freischaffender Tenor, aber auch als Dirigent und Gesangslehrer tätig, auf Camille Saint-Saëns gestoßen. Um dessen „Messe de Reqiem“ hat er nun ein erweitertes Programm zusammengestellt.

Gesungen wird im Stehen: die Sängerinnen und Sänger des Oratorienchores bei einer Probe im Gemeindehaus Gröne Stee

Eigentlich sollte das Konzert 2021 zum 100. Todestag des französischen Komponisten stattfinden. Doch das scheiterte wieder an der Pandemie. Dass es nun dennoch möglich wird, ein Programm vorzustellen, liegt an den unermüdlichen Bemühungen Löschmanns, den Chor im Rahmen digitaler Proben buchstäblich „bei Stimme“ zu halten, versichert Singvereins-Vorsitzende Professor Dr. Sylvia Kotterba.

Außerdem erwies sich das Netz für den Singverein tatsächlich als sozial förderlich. Die Sänger lernten sich nämlich richtig kennen. „Normalerweise singt ja jeder in seiner Stimme und kommt mit den anderen Sängern kaum in Berührung“, weiß auch der zweite Vorsitzende, Jörg-Volker Kahle. Doch bei den Zoom-Konferenzen hätten sich Gesichter und Namen verknüpft und wunderbarerweise die Kommunikation untereinander verbessert.

Reiste von Bosten nach Emden, um das Konzert am Sonntag in der Luther-Kirche mitzusingen: Judith Schwartz, hier mit Chorleiter Clemens-C. Löschmann

Es entstanden aber auch Kontakte gänzlich überraschender Art. So schaltete sich die Bekannte einer Sängerin in die digitalen Proben ein. Und Judith Schwartz blieb beim digitalen Singen dabei. Das besondere: Frau Schwartz lebt in Boston, an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Ihre Begeisterung für den Chor und seinen charismatischen Leiter „mit der sprechenden Mimik und Gestik“ führte zu dem Entschluss, auch das Konzert in der Martin-Luther-Kirche mitzumachen. Nun ist sie in Emden, und bei der Probe am Montag gab es schon mal ein großes Hallo und viele Umarmungen. Denn man kennt sich ja schon – aus dem Netz.

Camille Saint-Saëns soll es sein. Dessen „Messe de Requiem“ ist allerdings nicht abendfüllend. Also baute Löschmann weitere Werke des Franzosen drumherum. Aber nicht als schlichte Addition, sondern als durchstrukturierte Inszenierung nach dem Motto: Wir kommen aus einer Zeit, die als heil und normal empfunden wurde, und wir landen in einer Zeit von Pandemie und Krieg. Dieser Bruch wird sich auch in der Musikauswahl ausdrücken. Die Programmfolge beginnt mit einem „Marche réligieuse“, der instrumental mit Orgel und Harfe besetzt ist, dann folgt ein inniges Nachtlied, das das Entré für den Chor bildet. „La Cloche“ (Die Glocke) bringt erstmals das Detmolder Saxophon-Quartett zum Einsatz.

Mit dem „Sterbenden Schwan“ (Cygne mourant) wird als weitere Kunstform der Tanz in das Konzert implementiert. Katie Riebschlaeger ist auch beim „Danse Macabre“ eingesetzt, zu dem sich – als neuerliche künstlerische Form – die bildliche Darstellung gesellt. Der Emder Maler Klaus Frerichs hat sich mit dem Thema „Totentanz“ befasst, dafür aber eine sehr eigenwillige Form gefunden. Es handelt sich um einen zehnteiligen Zyklus, der das Thema umkreist, ohne dass Gevatter Tod aber im Bild präsent wäre.

Die Noten sind aufgeschlagen. Die Probe kann beginnen

Eine ganz besondere Komposition hat Löschmann auch noch berücksichtigt. Im Nachlass von Saint-Saëns fand sich ein umnähtes Kuvert, das einen geistlichen Chorsatz enthielt, der auf die Beteiligung von vier Saxophonen beruht. Da dieses Instrument damals gerade erst entwickelt war, handelt es sich, so versichert Löschmann, womöglich um die erste Komposition für Saxophon-Quartett überhaupt. „Wir heben da einen musikalischen Schatz“, versichert der Sänger, denn der Chorsatz zu „Super flumina Babylonis“ wurde erst wenige Male aufgeführt.

Wie dieses, so hat Löschmann auch andere Stücke des Programms für den Singverein, das Orchester und die Solisten arrangiert. Die aufwändige Arbeit, die Hunderte von Stunden umfasste, konnte er nur leisten, weil er ein dreimonatiges Bundesstipendium zugeschrieben bekam. Und auch für die Aufführung gab es eine Förderung, die dem ganzen Projekt den notwendigen finanziellen Freiraum verschaffte. Denn es braucht für das Konzert am Volkstrauertag nicht nur die Bremer Kammer Sinfonie, die Solisten Stephanie Henke (Sopran), Rosina Fabius (Mezzosopran), Andreas Post (Tenor) und Jörg Gottschlich (Bariton) und den Organisten Tobias Brommann, das Detmolder Saxophon Quartett, Tänzerin Katie Riebschlaeger und den bildenden Künstler Klaus Frerichs, sondern vor allem das Publikum. Dass dieses in Scharen in die Luther-Kirche strömen möge, ist der große Wunsch des Emder Singvereins von 1805.

► Um das komplexe Programm zu erläutern, bietet Clemens-C. Löschmann am Sonntag um 15.50 Uhr eine halbstündige Einführung an. Ab 16.30 Uhr beginnt der Einlass für das Konzert, das um 17 Uhr anfängt und etwa 80 Minuten dauert. Eine medizinische Maske ist obligatorisch.

► Karten für das Konzert sind für 22 Euro zu bekommen beim Ticket-Service von KulturEvents am Alten Markt, Tel. 0 49 21 / 87 12 66