Ein Emder Totentanz

Emden. Der Tod ist ein Verführer – zumindest im mittelalterlichen Weltbild. Und er tanzt um seine Opfer herum, egal, wer es ist: Kaiser, Bischof, Bauer oder Kind. Der Tod ist der große Gleichmacher.

Klaus Frerichs, Lehrer und Künstler, hat sich mit dem Thema Totentanz beschäftigt – in der Pandemie. Der Bilderzyklus der Lübecker Marienkirche, 1463 entstanden, im 17. Jahrhundert nicht mehr zu erkennen, 1701 neu gemalt, 1942 vollständig zerstört, nur in Fotodokumenten erhalten, war dabei der Auslöser. Der wirkmächtige Bilderzyklus mit seinen ursprünglich lebensgroßen Figuren machte Eindruck. Faszinierendes Thema. Aber auch zeitlos? Wie kann man heute mit den modernen Mitteln ausdrücken, was seit Jahrhunderten durchgearbeitet wird? Soll man es überhaupt?

Bild 1. Tanz ohne Instrument. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

Das wäre eine lange Beschäftigung geworden, mutmaßte Frerichs. Könnte die Investition an Zeit und Aufwand auch lohnend sein? Zweifel waren da. Dann kam 2019 die Kunsthallen-Ausstellung mit Werken von Horst Janssen. Frerichs kopierte einige Werke – zur Übung, darunter auch das Bildnis einer Frau mit Cello. Das wurde zur zündenden Idee. Frerichs kreierte eine Frau mit einem Cellobogen in der Hand – doch das Instrument fehlt, und die Frau ist mit ihrer wilden Haarmähne einer Medusa ähnlich. Rundherum ist alles in Bewegung. Es wird getanzt, geklettert, beobachtet, Menschen sind bekleidet oder nackt. „Alles tanzt nach ihrer Pfeife“, kommentiert Frerichs und ist stolz auf die von ihm für seine Palette neu entdeckte Farbe Violett, die hier punktuell auftaucht, aber noch dominiert wird von einem hellen Blau.

Ein Totentanz ohne Skelett? Ohne Tod? Die Figuren tanzen klassisches Ballett oder lateinamerikanische Rhythmen, einige betreiben Artistik, während die Nicht-Cello-Spielerin wie eine Statue dem Ganzen einen Eindruck von Götzendienst verleiht. Vielleicht ist es eben dies: Der Tod als verführerisches Idol?

Der Maler, eingespannt in seine Staffelei: Bild 2 der zehnteiligen Serie

Die Reihe setzt sich fort. Im zweiten Bild ist der Tanz heftiger, der Bewegungsdrang deutlich größer. Das Cello indes hat keine Saiten, die Musik kommt von innen, als ob nur die Tänzer sie hören können. Der Künstler setzt sich selber ins Bild – nackt eingeklemmt in seine Staffelei. Eine an einem Trapez hängende, stürzende Gliederpuppe über seinem Kopf macht die heikle Profession des Künstlers sinnfällig, könnte aber auch für die Haltlosigkeit der Tänzer stehen, während ein Narrenkopf die Torheit des Tuns zu kommentieren scheint.

Im dritten Bild erscheint der Künstler als Philosoph – in Violett. Die Tänzer versuchen, das Gleichgewicht zu bewahren, doch die massiven Wände, die vorher dem Ganzen einen Hauch von Stabilität gaben, lösen sich immer mehr auf, obwohl sie – als Zeichen für das Wissen und die Weisheit des Denkers, der hier auch noch Zeichner ist – als Bücherregal dienen.

Der Künstler in der Pose des Philosophen: Bild 4

Die Fragilität und Labilität der Welt wird im erschreckenden vierten Bild noch unmittelbarer. In die sich auflösende Wand sind Nischen eingetieft, in die – wie in den Nekropolen Roms – Menschen eingepasst sind. Der Tanz ist auf zwei Personen reduziert, eine Balletttänzerin hält das Gleichgewicht auf einem winzigen Mauervorsprung. Sie tanzt Spitze. Wird sie stürzen? Ein halbes Holzpferdchen wirkt wie ein Symbol für das Ende kindlicher Leichtigkeit.

Bild 4: Die Wand als Grabstätte?

Schließlich sind es zehn gleich große Gemälde, die Frerichs malt, getrieben nicht von dem Drang, die schlimmen Corona-Jahre zu dokumentieren, sondern sie durchdenkend zu illustrieren. Ein Totentanz um Lebensgier und Endlichkeit, der die bildliche Gegenwart des Sensenmannes überflüssig macht. Und Frerichs führt den Zyklus ganz bis zum bitteren Ende durch.

Bild neun zeigt keine Menschen mehr, sondern nur noch Chimären. Leere Kleidungsstücke führen ein körperliches Eigenleben, Puppenköpfe erwecken Unbehagen. Die Welt ist ein Totenhaus geworden, in dem die Gespenster der Vergangenheit hohnlachend ihr Recht beanspruchen. – Das wirkt unheimlicher als jedes noch so schauerlich gemalte Skelett.

Bild 9: Nur noch die Kleidung hat menschliche Formen, selbst die Dornenkrone liegt am Boden

Das letzte, das zehnte Gemälde, zeigt einen völligen Zusammenbruch. Jede Sicherheit schützender Wände ist geschwunden, nur noch wenige Ruinen und einige zusammengefallene Tücher künden davon, dass her einst menschliche Wesen agierten, der Himmel ist tiefschwarz und zerrissen. Doch ganz im Dunkeln lässte der Künstler den Betrachter nicht zurück. Der Himmel zeigt eine leichte Aufhellung. Hoffnung?!

Bild 10: Das Ende oder ein neuer Anfang?

„Lass die Seelen, oh Herr, vom Tode hinübergehen zum Leben, das du einst Abraham verheißen und seinen Nachkommen“, heißt es in der „Messe de Requiem“ von Camille Saint-Saëns. Und für das Konzert des Emder Singverein von 1805 hat Frerichs den Zyklus vollendet. Das Programm des Sänger passte zu seinem Anliegen – und so verzahnten sich Kompositionen und Gemälde zu einem engen Miteinander. Besucher des Konzertes konnten es am Sonntag erleben.

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