Weihnachten mit Vergil

Serie über die bibliophilen Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 12

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Zwei Bücher aus sehr unterschiedlichen Zeiten werden heute präsentiert: Eine Ausgabe des römischen Dichters Vergil, erschienen 1544 in Basel im Verlag Hieronymus Curio, und eine zuerst 1924 erschienene Monographie. Deren Titel, „Die Geburt des Kindes“, lässt bereits ahnen, warum es für Weihnachten ausgewählt wurde. Verfasst hat sie der 1868 in Emden geborene Altphilologe Eduard Norden. Als er die religionshistorische Studie publizierte, zählte er, der bereits mit 26 Jahren ordentlicher Professor geworden war und seit 1906 an der Berliner Universität lehrte, zu den bedeutendsten Gelehrten Deutschlands. Weder sein Ruhm, noch seine nationalistische Gesinnung haben freilich verhindert, dass Norden, der sich 1885 hatte taufen lassen, seiner jüdischen Abstammung wegen ab 1933 zahlreichen Demütigungen ausgesetzt und seiner Ämter enthoben wurde; 1938 emigrierte er in die Schweiz, wo er 1941 starb.

Die kommentierte Vergilausgabe von 1544: Publii Vergilii Maronis Latinorum poetarum principis, Bucolica, Georgica, et Aeneis, doctissimis Seruij et Aelij Donati, excellentium grammaticorum commentarijs illustrata, multoque nunc quam antehac unquam castigatus excusa. Basel 1544. Sign. JaLB: Philol. 2° 0026M

Worum geht es in „Die Geburt des Kindes“? In dem noch immer fesselnden Werk unternimmt es Norden, das religiöse Umfeld dessen zu rekonstruieren, was uns als „Weihnachtsgeschichte“ bekannt ist, die Erzählungen von der Geburt eines Kindes, über die der Himmel jubelt und von der eine Veränderung der Verhältnisse auf Erden erhofft wird. Den Ausgangspunkt bildet für den klassischen Philologen aber nicht die Erzählung des Lukasevangeliums, sondern ein Gedicht des römischen Dichters Vergil (70 bis 19 v. Chr.), das vierte seiner „Hirtengedichte“ bzw. „Eklogen“, das um 40 v. Chr. verfasst worden ist. Hier kündigt der Dichter die Geburt eines Kindes an, mit dem ein neues Zeitalter beginnen werde, eine goldene Zeit, eine Epoche des Friedens und des Überflusses.

Natürlich wusste Norden, dass sich die Dichtung konkret auf die Geburt eines Knaben aus der Familie eines hohen römischen Beamten bezogen hatte, eines gewissen Gaius Asinius Pollio. Dieser hatte Vergil unterstützt, zwischen beiden bestanden freundschaftliche Bande. Zu Hoffnung auf eine tiefgreifende Veränderung der politische Verhältnisse gab es zur Zeit, in der Vergil das Gedicht schrieb, reichlich Anlass: Das Römische Imperium befand sich seit der Ermordung Julius Caesars am 15. März 44 vor Christus im katastrophalen Zustand der Auflösung, es tobte ein mörderischer Bürgerkrieg, dessen Ende nicht abzusehen war. Allein darauf zu hoffen schien noch möglich, das Wüten der einander bekämpfenden Parteien werde ein Ende nehmen und die Göttin der Gerechtigkeit, die „Jungfrau“, wie es bei Vergil heißt, wieder vom Himmel herabsteigen.

Eduard Norden: Die Geburt des Kindes. Geschichte einer religiösen Idee. Darmstadt 41969. Sign. JaLB: 17.94.10.110

Anders als die meisten Philologen versteht Norden das Gedicht des Vergil nicht als eine Weissagung, die sich auf ein konkretes Kind bezieht, sondern als Ausdruck von Erwartungen und Hoffnungen, die sich im ersten Jahrhundert vor Christus an verschiedenen Stellen in der antiken Welt ausgeprägt und durch die bedrängenden Erfahrungen der Gegenwart intensiviert hatten. Auch das hellenisierte Judentum hat an ihnen Teil, und die idyllischen Szenen, die das Lukas-Evangelium malt, führen uns an jedem Weihnachten zurück zu den Stimmungen von Sehnsucht und Erwartung, die unter Juden und Heiden vor zwei Jahrtausenden Gestalt gewonnen hatten. Die Erwartung, dass ein unschuldiges Kind den Beginn einer neuen, einer besseren und friedlicheren Ära einläuten oder selbst herbeiführen werde.

Nicht nur wegen der vierten Ekloge hat Vergil im lateinischen Mittelalter und darüber hinaus gewirkt wie kein zweiter Dichter der Antike – als den „Fürsten der lateinischen Poeten“ bezeichnet ihn der Titel unserer Ausgabe. An seinen Gedichten, vor allem aber an seinem großen Epos Aeneis, das von der sagenhaften Gründung der künftigen Metropole der alten Welt, Rom, durch eine kleine Schar Überlebender aus Troja handelt, lernte man seit dem ersten bis ins ausgehende 17. Jahrhundert den edlen und lebendigen Stil, die gute Sprache und den vollkommenen künstlerischen Ausdruck. Schier unzählige Ausgaben seiner Werke sind gedruckt worden, häufig, wie in unserem Fall, versehen mit Kommentaren antiker Gelehrter. Überall dort, wo die lateinische Sprache erlernt wurde, das sprachliche Band des alten Europa von der Küste des Atlantik bis an die Ostgrenzen des Polnisch-Litauischen Reiches, las man Vergil. Jeder Gymnasiast kannte Hunderte seiner Verse auswendig. Freilich, als Norden sich am Ende des 19. Jahrhunderts intensiv mit Vergil zu beschäftigen begann, war dessen große Zeit vorbei und er kaum mehr als Gegenstand akademischer Interessen.

Portrait des Vergil. Augustin de Saint-Aubin (1736 – 1807) nach einer antiken Büste, in: Les Bucoliques de Virgile, traduit en vers Français, Paris 1806 (Sign. JaLB: Philol. 8° 0229M)

Die Lektüre von Nordens immens gelehrter Studie über den religionsgeschichtlichen Zusammenhang, in dem das christliche Weihnachtsfest entstanden ist, lehrt, dass die antike Welt uns weniger fremd ist als man manchmal anzunehmen geneigt ist. Und bereits das Lesen einiger Verse Vergils zeigt das. Wir kennen die Angst vor Gewalt und Krieg, deshalb wohl auch die Träume und die Bilder der Hoffnung auf ein Ende des Elends. Es dürften nicht zuletzt diese schön gemalten Hoffnungen sein, die vor Resignation, Kälte und Zynismus bewahren.




















Vergil, Vierte Ekloge (Anfang)

Auf nun, Musen Siziliens, lasst uns Erhabneres singen!
Denn nicht jeden erfreun Tamarisken und niederes Strauchwerk.
Singen wir Lieder dem Hain, so sei er würdig des Konsuls.

Schon ist erfüllet die Zeit nach dem Liede von Cumae,
Und es ersteht ein großer Lauf neuer Geschlechter.
Schon kehrt wieder die Jungfrau, kehrt wieder die Herrschaft Saturns.
Schon steigt vom hohen Himmel ein neues Geschlecht hinab.
Du, sei dem Kinde, mit dem bald das eiserne Weltalter endet,
Goldene Zeit aufleuchtet über der ganzen Erde,
Du, reine Lucina, sei hold ihm. Schon herrscht ja Apoll.

Ja, mit dir beginnt er, o Pollio, Konsul, der Glanz dieser Zeit,
Monde gewaltiger Größe werden dahingehen.
Spuren unserer gräulichen Taten werden vergehen.
Atmen werden die Länder, befreit von ewiger Angst.

Jener wird göttliches Leben empfahn; Heroen vereint mit den
Göttern wird er erblicken und selbst sich zu ihnen gesellen
Und die Welt mit der Tugend der Väter befrieden.
Dir aber, Knabe, spendet zuerst das Erdreich ohne den Pflug
Kleine Gaben in Fülle, schweifenden Efeu, dazu auch
duftendes Baccar, heiteren Akanthus und Kolokasien.
Ziegen werden von selbst die strotzenden Euter zum Stalle
heimwärts tragen, Rinder nicht scheuen gewaltige Löwen.
Liebliche Blumen werden dir wachsen zur Wiege.
Sterben wird die Schlange, sterben das tückische Giftkraut,
Köstlicher Balsam Assyriens wird überall sprießen.

Anfang der vierten Ekloge in der Ausgabe von 1544. Der Text befindet sich in
der Mitte der Seite, an den Rändern die Kommentare der antiken Philologen Servius und Donatus

Aber, wirst einst du lesen vom Ruhme der Helden, den
Taten des Vaters und erkennen das Wesen der Tugend,
Dann wird das Feld von weichen Ähren vergoldet,
Rot am wildernden Dornbusch schwellen die Traube,
Honig wird triefen aus hartstämmigen Eichen.
Einige Spuren uralter Tücke werden noch bleiben:
Meere mit Schiffen zu queren, Städte in Mauern zu fassen,
Furchen in die Haut der Erde zu schneiden.
Dann wird kommen ein anderer Tiphys, andere Helden wird
Tragen die Argos, und andere Kriege beginnen,
Und der große Achill wird wieder gen Troia gesendet.

Dann aber, hat dich das Alter zum Manne gefestigt,
Weicht selbst der Schiffer vom Meere; Waren tauschet nicht mehr die
Planke von Fichte: jegliches Land wird alles erzeugen.
Nicht mehr duldet der Boden den Karst, nicht Hippen der Weinstock,
Dann erlöset der kräftige Pflüger die Stiere vom Joche,
Nicht mehr lernet die Wolle zu lügen alle die Farben,
Selber wird wechseln der Widder die Farbʼ auf den Wiesen,
Bald in liebliches Rot, bald in gelblichen Safran;
Purpur wird kleiden die weidenden Lämmer.

Lass solche Zeitalter kommen, raunen die Parzen,
Fügsam dem göttlichen Schicksal, im Chor.
Kommt, herrliche Ehren – die Zeit ist erfüllt.
Siehe, ein Sprössling, den Göttern so teuer, Juppiters großer Sohn!
Und wie freudig erbebet des Weltalls lastende Wölbung,
Länder umher und Ströme des Meeres und die Tiefen des Himmels!
Sieh doch den Jubel über den Aufgang glücklicher Zeiten.

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.