„Das Leben rutscht ab“

Foto-Ausstellung zum Leben auf dem Grimersumer Altendeich

Grimersum. Helga Beisheim ist bildende Künstlerin und lebt an einem Ort, der das Luftholen zulässt. Der Grimersumer Altendeich bietet nur wenigen Anwohnern Platz, gestattet zugleich aber weite Blicke in die Landschaft der Krummhörn. Hier, rund zwei Meter über den umliegenden Ackerflächen und Wiesen hat Beisheim ein Atelier, und hier arbeitete sie an ihrem neuen Projekt „Am Katzentisch“. Dabei geht es um das Themenfeld Benachteiligung, Ausgrenzung sowie Zugang, Verteilung und Zerstörung von Nahrungsmitteln. Das hat nur auf den ersten Blick nichts mit dem Altendeich zu tun. Denn beim genauen Hinsehen entstehen Assoziationen, die die Frage zulassen, ob ein Leben etwas abseits des Dorfes nicht auch tiefergreifende Bezüge hat. Anders gefragt: Ist das Leben auf dem Deich zugleich ein Dasein im Abseits?

Jan Rüst und Künstlerin Helga Beisheim im Atelier mit der Foto-Ausstellung

Im Rahmen dieser Überlegungen spielen nun Fotographien eine wichtige Rolle. Die bekam die Künstlerin immer mal wieder in der Nachbarschaft gezeigt – als Hinweis darauf, dass sich auf dem Altendeich so einiges geändert hat in den letzten 80 Jahren. Soweit reichten die Bilder nämlich zurück – bis in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. Auch Helga Beisheim, die seit den 70er Jahren auf dem Grimersumer Altendeich lebt und arbeitet, hatte in ihren Alben Fotos aus der Zeit, als sie mit tatkräftiger Hilfe der Nachbarn ihr Haus sanierte, gefunden. Bilder von fröhlicher Geselligkeit finden sich auch darunter.

Das ist sein Koje: Jan Rüst mit den Bildern aus seinem Foto-Album

Recht schnell wurde ihr klar, dass die Fotos so aussagekräftig sind, dass sie für einen wichtigen Aspekt des Generalthemas stehen können; „Abseits?“ Sie brauchte mehr Material. Die Nachbarn lieferten weitere Bilder, die Helga Beisheim nach und nach einscannt und farblich vereinheitlicht, indem sie sie in das zeitlose Schwarzweiß umgestaltet. Im Rahmen der Ausstellung wird nun deutlich, dass das einst lebendige, familiäre, auf gegenseitige Rücksichtnahme und Hilfe gebaute Nachbarschaftssystem heute gestört ist. Viele Ältere sind weggezogen, die Häuser stehen leer oder sind verkauft. Aber die neuen Eigentümer leben nicht in diesen Häusern, sondern kommen nur für ein paar Tage oder Wochen im Jahr zu Besuch in die Krummhörn. „Das Leben rutscht ab“, nennt Helga Beisheim die mit der neuen Situation verbundene Einsamkeit, weil „die menschlich wärmere, lebhafte Lebensweise“ der alten Zeit gebrochen ist. Vor allem Kinder fehlen. Für sie hatte die Nachbarschaft früher auf einem leerstehenden Grundstück einen Spielplatz eingerichtet. Dieser entwickelte sich dann zum Treffpunkt für die Menschen in der entlegenen Siedlung. Mit dem Wegfall der jüngeren Generation endete auch dieser Beitrag zur Gemeinschaftsbildung.

Helga Beisheim mit Aufnahmen vom gemeinschaftlichen Arbeiten und Feiern

Helga Beisheim betreibt mit den Ansichten keinen rosaroten Blick zurück. Sie weiß, dass die Lebenssituation sich für die Menschen, die hier siedelten, nie einfach gestaltete. Die kleinen Häuser waren mit Menschen überfüllt, sechs bis zehn Kinder keine Seltenheit. Dann habe es auch noch Druck von außen auf die Familien gegeben, als eine freikirchliche Gemeinschaft sich ansiedelte, weiß Helga Beisheim, und ihr Nachbar Jan Rüst nickt.

Viel freies Land erstreckte sich um den Grimersumer Altendeich, heute gibt es hier viel Bebauung, aber eben auch viel Leerstand

Rüst wurde auf dem Altendeich geboren, ging in Grimersum zur Schule, lernte sein Maurer-Handwerk, arbeitete bei verschiedenen Bauunternehmen in der Region, ging in den Ruhestand – und er lebt immer noch hier. Rüst hat also die gesamte Entwicklung miterlebt, und auch er hat Fotos herausgesucht, die nun an der Wand im Atelier von Helga Beisheim hängen. Es fällt ihm leicht, Namen zu nennen, Personen zu erinnern, Orte zu identifizieren. Und er weiß, dass es auf dem Altendeich einst nur ganz wenige Häuser gegeben hat. Die Sicht war noch freier, der Wind strich noch heftiger um die Häuser. „Und hier war unser Schulweg“, sagt Rüst und deutet auf ein Foto, das einen schmalen Fußpfad direkt neben dem Schoonorther Zugschloot zeigt. Raue Zeiten waren es, das ist auch für ihn unstrittig. Aber die derzeitige Situation mit den vielen, nur partiell genutzten Häusern missfällt ihm sehr.

Das Fotoprojekt „Abseits?“ hat Helga Beisheim eingebettet in ihr übergeordnetes Vorhaben „Am Katzentisch“. Sie bewarb sie sich damit um ein Stipendium bei „Neustart Kultur. Konjunkturprogramm für den Kultur- und Medienbereich“ – und war erfolgreich. Die Ausstellung, viele Installationen und einige abstrakte Bilder wird sie als Nachweis für ihre Tätigkeit im Rahmen des Stipendiums einreichen – und dazu noch einen Katalog drucken lassen. Außerdem ist sie mit der Installation „Am Katzentisch 2“ von rund 250 Zentimetern Durchmesser sowie zwei weiteren Arbeiten im Juni 2023 zur Ausstellung „FACILE“ in die Johanna-Mühle in Emden eingeladen.

► Ihre kleine Fotoausstellung „Abseits?“ ist am 8. / 15. / 22. und 29. Januar immer von 15 bis 18 Uhr in ihrem Atelier am Grimersumer Altendeich 5 zu sehen. Es wird um Anmeldung gebeten unter Tel. 0 49 20 / 621 oder 0151 / 201 00 375