Eine Tragödie über das Werden der Demokratie

Serie über die bibliophilen Schätze der Johannes a Lasco Bibliothek, Teil 13

Von Dr. Michael Weichenhan

Emden. Die Johannes a Lasco-Bibliothek zählt zu ihren kostbarsten Beständen die Bibliothek des gelehrten Theologen Albert Hardenberg (1510 bis 1574). Der Buchbestand umfasst Titel aus unterschiedlichen Wissensgebieten, die die Weite der Interessen ihres einstigen Besitzers dokumentieren, der in Emden zwischen 1567 und 1574 als Pfarrer amtiert hat. In der „Großen Kirche“ wurde er bestattet, ein Portrait hat die Zeit überdauert und ist heute am zweiten südlichen Pfeiler des einstigen Kirchenschiffes zu sehen.

In den Händen von Klaus Frerichs vom Vorstand der Freunde der Johannes a Lasco Bibliothek: Der Sammelband Philos. 8° 43 H
Bilder: Udo Bleeker

In dem sorgfältig restaurierten Band aus seiner Bibliothek mit der Signatur Philos. 8° 43 H wollen wir heute ein wenig blättern, nicht ohne einen Blick auf den Ledereinband und seine Verzierungen geworfen zu haben.

Der Einband des Sammelbandes Philos. 8° 43 H: Rindsleder mit Blindprägung. Außen befinden sich Fabelwesen, innen Eicheln und andere florale Elemente

Der Band enthält insgesamt neun verschiedene Werke, überwiegend griechische Texte, aber auch eine lateinische Abhandlung des großen Humanisten Erasmus von Rotterdam über den Krieg gegen die Türken. Mich interessiert der sechste Titel: Eine 1530 in Paris erschienene griechische Ausgabe einer Tragödie des Sophokles (ca. 495 bis 405 v. Chr.), und zwar des „Aias“; unter den sieben (von über 120) erhaltenen Stücken des Sophokles ein vergleichsweise frühes Werk, heute gegenüber der „Antigone“ und den beiden Dramen, die das Schicksal des Königs Ödipus behandeln, ein eher unbekanntes Werk.

Interessant ist schon das Titelblatt: Unter dem zweisprachigen Titel (übersetzt: Aias, der Peitschenträger) sieht man ein geflügeltes weibliches Mischwesen, eine Harpyie, die sich im Spiegel betrachtet. Das Motiv der Betrachtung im Spiegel dient oft zur Charakterisierung der Eitelkeit oder auch der Wollust, die Hässlichkeit der Gestalt aber mahnt, sich nicht von körperlicher Schönheit betören zu lassen. Dazu passen die beiden Sprüche, die das Bild rahmen. Oben heißt es griechisch: „Ich verzichte auf Honig und auch die Biene“, ein Sprichwort aus der Sprichwortsammlung „Adagia“ des Erasmus von Rotterdam. Auf eine süße Verlockung, den Honig, soll man verzichten, droht dabei Gefahr: die zum Stechen bereite Biene.

Dazu passt der lateinische Halbvers aus Horaz: „Nocet empta dolore voluptas“: „Lust, um Schmerz erkauft, schafft Leiden“. Dem Pariser Verleger schien es offenbar wichtig, dem Leser noch vor der Lektüre einen moralischen Rat auf den Weg zu geben. Genaugenommen haben die beiden Sprüche mit dem Stück selbst nichts zu tun. Lediglich die Wertschätzung, die dem Maßhalten entgegengebracht wird, die Warnung vor überstürztem, emotionalen Handeln, die für das Ethos der Antike generell charakteristisch ist, verbindet sie mit dem Drama des Sophokles.

Titelblatt der Ausgabe: Oben stehen in griechischer und lateinischer Schrift Verfasser und Titel: Sophokles, Aias Mastigophoros bzw. Aiax Flagellifer.
Das griechische Motto: μήτʼ ἐμοὶ μέλι μήτε μέλιττα (mētʼ emoi meli mēte melitta), deutsch: „Für mich weder den Honig noch die Biene“.
Der lateinische Spruch: „Nocet empta dolore voluptas“, deutsch: „Lust, um Schmerz erkauft, schafft Leiden“, stammt aus dem zweiten Brief des Horaz.
Unten die bibliographischen Angaben: Paris, an der Sorbonne, 1530
.

Das Stück handelt von dem Wahnsinn, in den einer der gewaltigsten griechischen Helden fällt, also die Kämpfer, die an dem sagenhaften Krieg um Troja teilnahmen, dem Wahn eben des Aias, dem bestürzenden Erwachen aus der Umnachtung, der Flucht in den Selbstmord und dem Streit um seine Bestattung. Aias war stark, mutig, ein als edel geltender Recke, der sich Hoffnung machen durfte, nach dem Tod des einzigen, der ihn übertraf, Achill, dessen Waffen als Ehrenbezeigung zu erhalten.

Doch die Hoffnung hatte getrogen. Statt seiner erhielt sie Odysseus, der listenreiche und wortgewaltige König von Ithaka. Um seine Ehre wieder herzustellen, sann Aias auf Rache, auf die – selbstverständlich blutige – Vergeltung der Schmach. Nicht nur Odysseus, auch der Heerführer des Griechenheeres, Agamemnon, und dessen Bruder Menelaos samt Gefolge sollten sterben. Die Schutzgöttin des Odysseus, Athene, vereitelte den Plan, indem sie Aias mit Irrsinn schlug, der nun nicht über die Könige, sondern tatsächlich über eine Ziegenherde herfiel und sich nach vollbrachter Tat in sein Zelt begab, um befriedigt zu schlafen.

Hier setzt das Drama ein: Athene ruft Aias vor das Zelt, um ihn vor Odysseus der Schande und der Lächerlichkeit preiszugeben: Aias, vom blinden Wahn befreit, erkennt, dass er keineswegs seine Ehre wiederhergestellt, sie vielmehr vollkommen eingebüßt hat. Er hat nicht nur sein Ziel verfehlt, sondern sich zum Gespött gemacht. Es bleibt allein der Selbstmord, den er, dem Flehen seiner Frau und des absehbaren Unglücks zum Trotz, das er damit über seine Angehörigen bringen wird, schließlich auch begeht.

Das Stück endet mit dem Streit um die Bestattung des gescheiterten Frevlers. Es ist Odysseus, das eigentliche Ziel von Aiasʼ gescheiterter Rache, der sich dem Fanatismus aller Übrigen entzieht und blinde Wut durch maßvolle Zurückhaltung überwindet. Selbstbeherrschung, Umsicht und Klugheit, das sind, wie Athene ihrem Schützling gleich zu Anfang unmissverständlich deutlich macht, die Verhaltensmuster, die den Göttern wohlgefällig sind. Nunmehr einzig wohlgefällig sind.

Die griechische Tragödie in der Gestalt, in der wir sie kennen, ist die literarische Form, die mit der Entstehung der Demokratie eng verbunden ist, eines damals vorbildlosen Experiments, Entscheidungen auf Grund von Abstimmungen der Bürger herbeizuführen, sie also erst nach dem Austausch von Meinungen, Auffassungen und dem Abwägen von Gründen zu fällen. Die Tragödien, die ihren Stoff überwiegend den Mythen und Epen verdanken, z.B. den Epen Homers über den Kampf um Troja („Ilias“) und die Heimkehr des Odysseus („Odyssee“), waren ein bedeutendes Medium dieses Experiments. Konnten die rachsüchtigen Helden, die die Großstadt Troja in Schutt und Asche gelegt und all ihre Bewohner getötet bzw. versklavt hatten, nur weil einem König seine schöne Frau geraubt worden war, konnten diese Berserker noch als Leitfiguren einer auf Klugheit und Beratung basierenden Gesellschaft gelten?

Im „Aias“ hat Sophokles diese Frage schon überdeutlich verneint, fast wie in einem Lehrstück. Aias, das war der stolze Held des Trojanischen Krieges, ein Mann, dessen Standhaftigkeit und Unerschütterlichkeit in der „Ilias“ gerühmt wurden. Kein Mann großer Reden und Listen – wie Odysseus. Diesen stellte bereits die jüngere „Odyssee“ als Figur vor Augen, die zwar gewaltige körperliche Stärke auszeichnet, vor allem aber über einen unerschöpflichen Vorrat an Kniffen und Verstellungskünsten verfügt.

Odysseus war nicht auf eine bestimmte Rolle festgelegt, er wusste sie je nach Situation anzunehmen und abzulegen. Er wusste mit seinen Reden andere zu überzeugen – die Göttin, die ihm in allen Gefahren zur Seite steht, ist Athene: ebenso kriegerisch wie klug. Bei Sophokles wird Aias, der standhafte und unbeugsame Recke, der um seiner Ehre willen ein Blutbad anrichtet, zur grotesken Figur, bemitleidenswert eher als furchterregend.

Das Vorbild in der Athener Demokratie war nicht mehr der Kämpfer, der in seiner Mischung aus Schlichtheit, Rücksichtslosigkeit und Stärke für die Ideale der Vergangenheit stand, sondern der wendungsreiche und wortgewandte Odysseus. Anders als seine Gefährten Agamemnon und Menelaos braucht er keine Rache an dem, der verloren hat. Es genügt das Wissen, dass der einstige Feind keinen Schaden mehr anrichten kann. Gegenüber dem, der sich in seiner Verblendung ruiniert hat, gibt es keinen Hass, sondern Mitgefühl.

Odysseus beabsichtigt, dem Teukros, dem Halbbruder des Aias, bei der würdigen Bestattung zu helfen: „Ich war sein Feind, doch bin in gleichem Maße nun sein Freund. Den Toten will ich dir begraben helfen, will mich mit dir mühen und nichts versäumen, was den Edelsten die Menschen schulden.“ Und noch mehr: Als Teukros die Unterstützung des Odysseus höflich mit dem Argument zurückweist, sie wäre nicht im Sinne des Verstorbenen, akzeptiert Odysseus selbst das: „Ist es dir nicht lieb, dass wir gemeinsam handeln, dann ist mir auch dein Vorsatz recht“.

Wir wissen nicht, wie Hardenberg den Aias gelesen hat. Vielleicht als Quelle von moralischen Einsichten, die sich in Form kurzer Maximen lernen ließen, wahrscheinlich aber nicht als den tragischen Konflikt zwischen zwei Lebensidealen, in dem schließlich dasjenige die Oberhand behielt, das von dem beredten, findigen und kompromissbereiten Odysseus verkörpert wurde.

Die erste Seite des Dramentextes mit den Eintragungen vermutlich von Hardenberg

Was wir aber wissen: Es war vermutlich Hardenberg, der an diesem Text seine Griechisch-Kenntnisse geübt hat. Über die griechischen Worte hat er die lateinische Übersetzung notiert. Freilich, bereits nach wenigen Versen enden diese Eintragungen.

Griechisch lernen wir, wenn überhaupt noch, anders; die feierliche Sprache der Tragödien dient nicht mehr der Vermittlung von Vokabel- und Grammatikkenntnissen. Die griechischen Tragödien sind für heutige Leser oder das Theaterpublikum Gegenstand ästhetischen Genusses, Anlass zur Reflexion über Probleme, die wir allen Fortschritts zum Trotz nie überwinden oder loswerden. Denn sie zeigen uns, wer wir sind: fehlbare Menschen. Deren Größe sich zuweilen darin erweist, sich zu überwinden.

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Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und Theologe. Nach dem Studium der evangelischen Theologie, Philosophie, klassischen Philologie und der Geschichte der exakten Wissenschaften in Berlin und Hamburg promovierte Dr. Michael Weichenhan 2002 über die „Supernova des Jahres 1572 und die Überwindung der aristotelischen Kosmologie“. In den Jahren danach arbeitete er an den Universitäten in Berlin, Frankfurt / Main und Darmstadt. Seit 2019 ist Weichenhan in Emden als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek mit dem Editionsprojekt Zwischen Theologie, frühmoderner Naturwissenschaft und politischer Korrespondenz: Die sozinianischen Briefwechsel“ betraut.