Ein Fürsprecher der Geschundenen

Norden. Die Ludgerikirche wird vom 2. Juni an eine Ausstellung mit rund 50 Arbeiten des Künstlers und ehemaliegn Kunsterziehers Herbert Müller zeigen. Der Titel der Ausstellung: „Unsichtbares sichtbar machen. Das KZ vor der Haustür“. Es geht dabei um die 188 toten Zwangsarbeiter, die zwischen Oktober und Dezember 1944 Opfer der brutalen Methoden des Nazi-Regimes wurden und im KZ Engerhafe ums Leben kamen, die man auf dem Friedhof des Dorfes bestattete, denen man aber keine Grabsteine setzte. Müller beschäftigt sich seit Mitte der 1980er Jahre mit den Vorkommnissen in Engerhafe. Nun soll im Rahmen einer Ausstellung der lange Weg der Entwicklung vom Vergessen bis zum Gedenken aufgezeigt werden. Im Rahmen einer Pressekonferenz berichtete Müller darüber, wie diese Entwicklung sich vollzogen hat.

Erste Arbeiten: Herbert Müller, Michaela Kruse und Pastor Martin Specht im Chorumgang der Ludgerikirche

Es war ein Vortrag von Martin Wilken (gest. 1994), der Müller derart packte, dass ihm das Thema künftig nicht mehr aus dem Kopf gehen sollte. Wilken habe über die Nebenstelle des Konzentrationslagers Neuengamme in Engerhafe gesprochen. Das war 1987, erinnert sich Müller. Er sei so betroffen gewesen, dass er umgehend vor Ort auf Spurensuche ging. Auf dem Friedhof seien keine Gräber zu finden gewesen – bis auf einen Stein von 1946 mit der Aufschrift „Den Opfern“. Wer aber waren diese Opfer?

Müller machte sich daran, das Thema in den Unterricht einzubeziehen. Mit Hilfe seiner Schüler arbeitete er daran, die Namen der Toten zu ermitteln. In einem Kirchenbuch der Gemeinde fand sich eine Quelle. Das waren Totenzettel, die die 188 Namen preisgaben. Er sei damals, so berichtete Müller im Rahmen der Pressekonferenz, zur Gemeinde gegangen, um den Opfern ihre Namen zurückzugeben. Doch dort habe man keinerlei Interesse gezeigt. „Da stand ich mit den 15-jährigen Schülern und habe mich geschämt.“ Die Konsequenz aus dem Besuch? Müller entschied: „Wenn ihr das nicht sehen wollt, dann male ich es euch.“ Und es begann ein Projekt, dass den Künstler seit nunmehr 36 Jahren beschäftigt.

Auf Leintücher hat Herbert Müller die Lage der KZ-Toten von Engerhafe in ihren Gräbern skizziert

Anfangs habe er sich von Klischees leiten lassen. Die von Müller gemalten Häftlinge trugen grau-gestreifte Kleidung. Erst später erfuhr er, dass es zu jener Zeit, gut ein halbes Jahr vor Kriegsende gar keine entsprechende Ausstattung mehr gab. Die Häftlinge wurden statt dessen mit einem gelben Kreuz gekennzeichnet. Die Baracken, das Eingangstor – alles entstand aus Erfahrungsmustern und musste später korrigiert werden. Doch Müller ließ von dem Thema nicht mehr ab. Er begann, systematisch Informationen zu sammeln, denn die Engerhafer lebten mit dem KZ in unmittelbarer Nähe und sahen es, wenn die Gefangenen zum Bau des sogenannten Friesenwall in Richtung Aurich – und zurück – getrieben wurden.

Zunächst sei ein Gedenken gar nicht möglich gewesen, erinnert sich Müller. Er stieß auf Schweigen. Eine Ausstellung, in der 188 schattenhaft auf riesigen Laken dargestellte Körper von der Decke des noch im Umbau befindlichen Gulfhofs Ihnen hingen, endete mit Störungen. Doch dann begegnete der Künstler immer mehr Menschen, die sich die Erlebnisse aus den Kriegsmonaten von der Seele reden wollten.

Aus der Nähe erkennt man, dass viele der Toten dicht gedrängt bestattet wurden – je nachdem, wie viele an dem jeweiligen Tag starben. Die ersten vier Toten wurden tatsächlich in Särgen beerdigt, später wurden sie in Gruben gelegt und mit Löschkalk bedeckt

Dann erfuhr er, dass 1952 eine alliierte Kommission in Engerhafe eintraf, die die Gräber öffnen ließ und die menschlichen Überreste daraus dokumentierte. Diese Dokumentation geriet in seine Hände, und es entstand das Projekt „Porträts aus dem Massengrab“, weit überlebensgroße Schädel auf schwarzem Grund, versehen mit dem Hinweis, aus welchem Grab sie stammen. Zudem nähte Müller lange schmale Bahnen Leinen zusammen und dokumentierte mit einfachen Strichen die Lage der Toten in den Gräbern.

Gemeindepastor Martin Specht hatte im Vorfeld mit der stellvertretenden Vorsitzenden des Kirchenvorstandes der Ludgerikirche, Michaela Kruse, einen Atelier-Besuch bei Müller gemacht. Beide waren fasziniert von den Arbeiten. Gezeigt werden die Bilder und Objekte nun im lichten Chorumgang der Ludgerikirche. Für diese Ausstellung entwickelte Müller neue Ideen, die das Ziel haben, die verschiedenen Arbeiten so darzustellen, dass das Ganze zu einer einzigen Installation wird. Dafür hat er seine ersten Skizzen von 1987 mitgebracht, die frühen Bilder, aber dann auch Werke aus allen sich anschließenden Phasen. Dass er in Ludgeri ausstellen kann, freut ihn sehr – auch, weil er hier getauft und konfirmiert wurde. Die große Offenheit der Gemeinde ist für ihn Ansporn, in die Darstellung besondere Momente einzupassen. Dazu gehört unter anderem die Einbeziehung der spätmittelalterlichen Bauskulpturen. „Für mich ist die Kunst eine Möglichkeit, die Welt zu interpretieren“, resümiert Müller.

► Die Ausstellung „Unsichtbares sichtbar Machen. Das KZ vor der Haustür“ wird am Freitag, 2. Juni, um 19 Uhr im Chor der Ludgerikirche eröffnet. Kunsthistorikerin Dr. Annette Kanzenbach spricht über die künstlerische Arbeit Müllers, Pastor Specht führt mit Müller ein Gespräch über dessen Beschäftigung mit dem KZ Engerhafe. Die Ausstellung dauert dann bis zum 31. Juli.

► Am 18. Juni, 10 Uhr, findet ein Gottesdienst statt, der sich mit der Ausstellung auseinandersetzt

► Am 7. Juli lädt die Gemeinde um 19 Uhr zu einer Buchvorstellung mit Diskussion ein. Die Religionswissenschaftlerin Dr. Insa Eschebach stellt ihre Publikation „Was bedeutet Gedenken?“ vor.

► Am 28. Juli spricht die Historikerin Dr. Simone Erpel um 19 Uhr im Rahmen der Finissage über die Neugestaltung der Gedenkstätte Engerhafe