Komplexes Zusammenspiel – gruselig schön

Emden. Das was sich am Donnerstag (3. August) im Rahmen der Gezeitenkonzerte in der Martin-Luther-Kirche vollzog, spektakulär zu nennen, dürfte eine krasse Untertreibung sein. Drei Pianisten und zwei Percussionisten ernteten nach Ende des Konzertes zunächst ein tiefes Schweigen, das Betroffenheit, Verblüffung und vielleicht auch Erschrecken ausdrückte, ehe wahrhaft frenetischer Applaus losbrach.

Musiker und Komponist: Wolfgang-Andreas Schultz, Theresia Seifert, Olha Chipak, Oleksiy Kushnir, Lilit Grigoryan und Francisco Manuel Anguas Rodriguez. Bilder: Karlheinz Krämer

► Betroffenheit – weil der „Danse Macabre“ von Saint-Saens von so deskriptiver Wucht ist und die klappernden Knochen musikalisch unnachahmlich und eindrücklich hörbar gemacht werden. Aber auch das „Totentanz-Ritual“ von Wolfgang-Andreas Schultz (Jahrgang 1948) nutzt diese Form des Erzählerischen, wenn er König, Mönch, Mädchen, Soldat, Kaufmann, Bauer und Bettler dem Tod begegnen und mit ihm tanzen lässt – und dies mit keineswegs abstrakten Tönen kennzeichnet.


► Verblüffung – weil man eine instrumentale Formation wie das Ensemble Dimensions noch nie erlebt hat. Der künstlerische Leiter der Gezeitenkonzerte, Matthias Kirschnereit, sprach mit Blick auf die Gruppe gar von einer „Welt-Erst-Formation“. Und wenn man dann bedenkt, ein welch kompliziertes Vorhaben schon ein Klavier-Duo darstellt, dann kann man sich denken, wie komplex die Vorbereitungen für dieses Konzert waren. Auch die Beobachtung der Percussionsgruppe, die eine beeindruckende Wagenladung voller Schlaggerätschaften in voller Breite des Chorraumes aufgebaut hatte und nun in einer geschmeidigen Choreographie von Instrument zu Instrument eilte, war ein intensives Erlebnis.

Das Ensemble Dimensions während des Konzertes

► Erschrecken – weil das Thema Tod und Lebensende keines ist, dem man sich gerne stellt. Hier aber wurde mit Mitteln, die direkt aus dem mittelalterlichen Kontext zu kommen scheinen, das Bild des tanzenden, jubelnden Todes, der sich seiner Unabweisbarkeit bewusst ist, durchdekliniert und mit den Mitteln der Musik vorgestellt, wobei das Werk von Schultz – eine Uraufführung – das einzige war, das speziell für Ensemble Dimensions komponiert wurde.

Drei Flügel – bei der Probe: Lilit Grigoryan, Oleksiy Kushnir und Olha Chipak

Das organisatorische Problem, so sagte Kirschnereit eingangs, sei die Beschaffung der Flügel gewesen. Womöglich habe die Elbphilharmonie drei Flügel vorrätig, aber nicht die Gezeitenkonzerte. Hier ergab sich eine Kooperation mit dem Unternehmen Yamaha, das drei identische Instrumente zur Verfügung stellte.

Die Martin-Luther-Kirche in Richtung Westen mit der großen Fensterrose

Die Pianisten Olha Chipak, Lilit Grigoryan und Oleksiy Kushnir sowie die Percussionisten Theresia Seifert und Francesco Manuel Anguas Rodriguez zeigten von Anfang an eine souveräne Leistung. Und das will etwas heißen – angesichts des Schwierigkeitsgrades, den es zu bewältigen galt. Das komplexe Zusammenspiel der so unterschiedlichen Instrumentengruppen gelang auf das Beste. Eine bewundernswerte Leistung! Dass die Pianisten sich von der Anwesenheit des Komponisten Wolfgang Andreas Schultz oder Klavier-Professor Kirschnereit nicht irritieren ließen, die ihnen buchstäblich „im Nacken“ saßen, gehört zu den weiteren Besonderheiten des Abends.

Das Thema „Tanz“ fand sich dabei in jedem der vier Werke in sehr individueller Interpretation. Ravels „Alborada“ wurde zur Solo-Vorstellung der Schlagwerker, die auf Marimbaphonen spielten. Rachmaninows „Symphonische Tänze“ erhielten in den schönsten Momenten durch den Einsatz der Schlagwerke ein silbriges Glänzen. Schultz‘ Totentanz-Ritual erging sich in einer enormen emotionalen Bandbreite – je nachdem wer gerade mit dem Tod tanzen musste. Saint-Saens‘ „Danse macabre“ aber war in der Bearbeitung von Greg Anderson (Jahrgang 1981) ein überwältigender Sturz (für ein trotz Standesunterschieden zusammengekommenes Liebespaar) mitten hinein in die Endgültigkeit des Todes. Gruselig schön das alles.

Die Musiker nach gelungenen Abschluss des Konzertes: Theresia Seifert, Olha Chipak, Oleksiy Kushnir, Lilit Grigoryan und Francisco Manuel Anguas Rodriguez