Streiflichter der Aufklärung
Teil 5: Jean-Jacques Rousseau: Der Außenseiter der Aufklärung
Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.
Von DR. MICHAEL WEICHENHAN
Emden. Er zählt zu den widersprüchlichsten Figuren der Aufklärungszeit, wenn nicht der Literatur- und Philosophiegeschichte überhaupt. Die einen blicken mit Schaudern auf seinen Charakter, den sie schlichtweg als abscheulich bezeichnen, andere sehen in ihm einen selbstverliebten Sonderling, wenn nicht psychisch Kranken, wieder andere preisen das literarische Genie, den originellen Denker, an dem sich Generationen von politischen Philosophen und Pädagogen abgearbeitet haben. Da ist der Schreibtischpädagoge, der seine Kinder ins Waisenhaus steckte, der Fürsprecher inniger Liebe, der zu seiner Lebensgefährtin kaum Zuneigung empfand, da ist aber auch der Mann, der es vermochte, Romane von beispiellosem Erfolg, musiktheoretische, kulturkritische, sprachphilosophische und staatstheoretische Abhandlungen zu Papier zu bringen, zu komponieren und botanische Studien zu betreiben, der Autor, dessen Ideen das Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution inspirierten. Die Rede ist von Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778).
Rousseau ist der Außenseiter unter den Aufklärern. Anders als die großen Stars des neuen Geistes – Voltaire, Diderot, d’Alembert und viele andere – hat er keine elitäre Bildung auf einer der strengen Schulen der Jesuiten oder der Jansenisten genossen, er muss nicht gegen die übermächtige katholische Kirche der französischen Monarchie anschreiben, denn er wird geboren in der vom Calvinismus beherrschten Stadtrepublik Genf.
Seine Erziehung ist unzureichend und von mancherlei Zu- und Zwischenfällen geprägt; das immense Wissen, über das er als erwachsener Mann verfügt, erwirbt er sich durch Lektüren und indem er andere unterrichtet. Rousseau versteht sich nicht auf das gefährliche Spiel mit den Mächtigen, das jene Aufklärer virtuos beherrschten und ihnen zuweilen Ärger und Ungemach, aber auch Ansehen, Posten, sogar beträchtliche Reichtümer einbrachte. Er bleibt Zeit seines Lebens ein Fremder, und er kultiviert diese Fremdheit, auch äußerlich. Nachdem er 1762 vor Verfolgung in Frankreich im zu Brandenburg-Preußen gehörigen Neuchâtel Asyl gefunden hat, kleidet er sich mit Vorliebe wie ein Armenier; Kaftan und Pelzkappe machen deutlich, dass Jean-Jacques Rousseau mit der feinen Gesellschaft gebrochen hat.
Zu diesem Zeitpunkt hat er, der für die „Encyclopédie“ einen wegweisenden Artikel über politische Ökonomie und zahlreiche weitere zur Musik verfasst und sich mit Abhandlungen als einer der führenden Köpfe der französischen Aufklärung ausgewiesen hat, sich bereits mit einstigen Gönnern, Weggefährten und Freunden, allen voran Voltaire und d’Alembert, überworfen. Einen Gunsterweis vom französischen König für eine von ihm komponierte Oper, der seine stets angespannte finanzielle Lage hätte erleichtern können, hatte er schon 1752 ausgeschlagen und wird sich auf derartige Abhängigkeiten auch künftig nicht einlassen. Er zieht ein unstetes und unsicheres Leben in Freiheit und Unabhängigkeit vor.
Rousseau brüskiert die starken Kräfte: Monarchen wie Friedrich II. von Brandenburg-Preußen und Ludwig XV. von Frankreich, die katholische Kirche, den Genfer Rat und die Calvinisten, schließlich auch die aufgeklärten Philosophen, deren Hang zu geistreicher Spöttelei und Überheblichkeit ihn anwidert. Deren Vorstellung, man könne die Menschheit durch Bildung verbessern, hält er für unzureichend, wenn nicht für völlig abwegig. Selbstgefälligkeit, Heuchelei und Unduldsamkeit begegnen ihm nicht nur bei den katholischen und protestantischen Autoritäten, die seine Bücher in bester Übereinstimmung dem Henker zur Verbrennung übergeben, er findet sie auch bei denen, die nur noch nicht über die erforderlichen Mittel verfügen, ihre Auffassungen gewaltsam durchzusetzen, eben jenen aufgeklärten Intellektuellen – zu denen er ja selbst zählt. Rousseau hat nicht nur mit der feinen Gesellschaft, er hat buchstäblich mit seiner Zeit gebrochen. Wenn er sie schon nicht aus der Ferne beobachten kann, dann wie ein Fremder.
Rousseau war einsam. Wer durch eigenen Entschluss einsam ist, wird auch dann, wenn er über die Menschen oder gar die Menschheit spricht, in erster Linie von einem einzigen Menschen sprechen: sich selbst.
„Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und dessen Ausführung niemals nachgeahmt werden wird. Ich werde meinesgleichen einen Menschen zeigen in der ganzen Wahrheit seiner Natur. Dieser Mensch werde ich sein. Ich allein. Ich fühle mein Herz und kenne die Menschen. Ich bin nicht wie die, die ich gesehen habe, ich wage zu glauben, nicht wie die zu sein, die überhaupt existieren. Wenn ich auch nicht besser bin als sie, so doch wenigstens anders.“
So beginnt Rousseau sein autobiographisches Werk, an dem er zwischen 1764 und 1770 arbeitete, die „Bekenntnisse“, französisch „Les Confessions“. Selbstverständlich wusste Rousseau, dass seine Leser wussten, dass es bereits ein Buch mit diesem Titel gab: Die „Confessiones“ des Kirchenvaters Augustinus (354 bis 430). Der hatte seine eigene, an Verirrungen und Verfehlungen so reiche Lebensgeschichte in 13 Büchern (wir sagen heute Kapitel dazu) offengelegt. An ihr zeigte er, dass es nicht in der Hand des Menschen liegt, ein Gott gefälliges, moralisch lobenswertes Leben zu führen. Vielmehr sei das der Gnade Gottes zuzuschreiben, einem Geschenk, das dem von Grund auf verdorbenen Menschen unverdient zuteil werde.
Mit jenem Bischof aus dem nordafrikanischen Tagaste, der über 30 Jahre lang der Gemeinde in Hippo, dem heutigen Annaba in Algerien, vorgestanden hatte, verbindet Rousseau nicht nur, dass auch Augustinus ein Außenseiter gewesen war, ein Mann der Provinz, dessen Auffassungen zunächst alles andere als unumstritten waren; erst weit nach seinem Tod sind sie, auf ein erträgliches Maß verwässert, zur Grundlage der kirchlichen Lehre geworden. Beiden ist ein unwiderstehlicher Hang zu rhetorischer Wirkung eigen, der mit Misstrauen, ja zuweilen Verachtung von Bildung und sprachlicher Eleganz einhergeht: Augustinus und Rousseau lebten geradezu aus derartigen Spannungen und Widersprüchen. Und schließlich verbindet beide, die eigene Lebensgeschichte, gerade weil sie alles andere als vorbildlich gelten konnte, zur Grundlage ihrer „Lehren“, ihrer theologischen bzw. philosophischen Auffassungen zu machen. Es ist das eigene Leben, das dem Denken die Richtung weist.
Warum also bezeichnete Rousseau seine „Confessions“ als beispiellos? Für Augustinus machte die Erinnerung an sein eigenes Leben vor allem deutlich, dass der Mensch auf Gnade angewiesen war. Das war Rousseau ein zutiefst fremder Gedanke – die Rechenschaft über die Geschichte der eigenen Person sollte im Gegenteil den unschätzbaren Wert eben dieser Person zeigen, und zwar gerade so, wie sie nun einmal war: edelmütig und erbärmlich, abstoßend, lächerlich, bemitleidenswert. Versteht man die zwölf Bücher seiner „Confessions“ als eine Beichte, so besteht ihr Sinn nicht in Reue und ihr Zweck nicht darin, Vergebung zu erlangen. Rousseau legt sie ab in dem Bewusstsein, niemand werde ihn an Aufrichtigkeit, an Schonungslosigkeit – vielleicht kann man sogar sagen: Schamlosigkeit – übertreffen. Das genügt, um sich vor der Nachwelt zu rechtfertigen.
Die „Confessions“, die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden, stehen mit seinen übrigen Werken in engstem Zusammenhang. Niemals sind Rousseaus Einsichten vom Leben Jean-Jacques’ zu trennen. Das zeigt sich besonders an dem enorm erfolg- und einflussreichen Werk zur Pädagogik, dem zuerst 1762 erschienen Buch, das streckenweise einem Roman ähnelt, „Émile, ou de l’éducation“, das noch im selben Jahr in deutscher Übersetzung („Aemil, oder von der Erziehung“) auf den Markt kam. Immanuel Kant soll von der Lektüre dermaßen gefesselt worden sein, dass er zur Verwunderung seiner Mitbürger darüber einige Tage seine täglichen Spaziergänge unterließ. Wie so oft bei Rousseau ist der erste Satz Programm: „Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles degeneriert unter den Händen des Menschen.“
Eine merkwürdige Aussage in einem Buch über Erziehung! Besteht diese doch genau darin, dass Menschen Kinder nicht nur ernähren, sondern ihnen kulturell erworbenes Wissen vermitteln, sie mit den Regeln und Normen der Gesellschaft vertraut machen, ihnen Sprechen, Lesen, Schreiben, Rechnen und dergleichen beibringen. Natürlich wusste Rousseau um die Provokation – man erwartete im Grunde auch nichts anderes von ihm. Man kann jenen Satz zunächst verstehen als Absage an den Drill, der in Schulen damals üblich war, an das Unterwerfen der Kinder unter eine Ordnung, wie man richtig zu sprechen, zu sitzen, die Schreibfeder zu halten, die Buchstaben zu zeichnen hatte, und dann das Einflößen von Wissensinhalten, wobei dem Rohrstock bei der Aufnahme des Lernstoffs eine sehr bedeutende Rolle zukam. Rousseau war dieses Abrichten und Dressieren von Menschen zutiefst verhasst, und zwar in einem solchen Maße, dass er es nicht als vorübergehendes und notwendiges Übel ansah, sondern als Übel schlechthin. Denn damit wurde der Mensch verdorben.
Wie sollte nun die richtige Erziehung aussehen? Rousseau zeigte das an der Hauptfigur, Émile, einem Waisenkind aus adliger Familie, das von einem Lehrer begleitet wird, der soweit wie möglich alle schädlichen Einflüsse von ihm fernhält und die üblichen Fehler vermeidet: Émile soll zunächst seine Sinne und seinen Körper ausbilden, nicht mit abstrakten Worten und „vernünftigen“ Ideen überfordert werden; Einsichten der Geometrie und Astronomie werden dem heranwachsen Knaben durch sinnliche Eindrücke verschafft. Bücher sind aus der Erziehung weithin verbannt, denn es gilt: „Kein anderes Buch als die Welt, keine andere Belehrung als die Tatsachen. Das Kind, das liest, denkt nicht, es liest nur; es unterrichtet sich nicht, es lernt Worte.“ Ein einziges Buch wird empfohlen. Es ist, wenig verwunderlich, der Roman über den Schiffbrüchigen, der sich fernab der Zivilisation allein seine Welt bauen muss: „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe, erschienen 1719.
Rousseaus Pädagogik setzt auf die Kräfte der Natur, die er der Zivilisation entgegensetzt. Diese produziere beständig all die Laster, die Rousseau nicht müde wird zu tadeln: Egoismus, Neid, Heuchelei und Verlogenheit. Der Mensch, wie ihn sich Rousseau erträumte, gleicht einem voll ausgewachsenen Baum, nicht Gewächsen, die man exakt auf geometrische Formen zugeschnitten hat, einem Tier in freier Wildbahn, keinem dressierten und hochgezüchteten Haustier; er ist ein körperlich starkes Individuum, nicht aber ein auswechselbares Exemplar einer Rolle, ob nun Höfling, Priester oder Soldat. Émile soll selbständig werden, also ein Handwerk erlernen. Das sichert eine unabhängige Existenz. Rousseau war sich klar darüber, dass frei zu denken und entsprechend zu handeln nur möglich ist, soweit man niemandes Knecht ist. Insofern zielt seine Erziehung auf den Bürger ab, nicht den Untertan.
Das Misstrauen gegenüber dem gesellschaftlichen Druck der Konventionen und die Abneigung, sich in die gesellschaftlichen Normen zu fügen, haben Rousseau zutiefst geprägt; anders als die meisten seiner intellektuellen Weggefährten hat er diese Unabhängigkeit nicht nur verkündet, sondern gelebt – und einen nicht geringen Preis dafür bezahlt. In den Erziehungsroman ist viel von Rousseaus Erfahrungen eingegangen, unter anderem die Überzeugung, dass man Bildung am besten durch eigene Erfahrung, nicht durch Drill erlangt. Und auch seine religiösen Auffassungen spielen eine Rolle. Das vierte Buch des „Émile“, in dem die Hauptfigur die Pubertät erlebt, berührt die Fragen nach Moral und Religion, und es ist ein vom Dienst suspendierter katholischer Geistlicher aus Savoyen, der erklärt, dass allein die Gottesverehrung, die man in seinem geläuterten Herzen fände, also die „natürliche Religion“ der Menschenliebe, die richtige sei, all diejenigen, die sich auf Offenbarungen, heilige Schriften und bestimmte Lehren stützten, hingegen Ausgeburten der Phantasie.
Rousseau, der den unschätzbaren Wert der Person preist, der an den Zäunen der überkommenen Ordnungen rüttelt und sie als verächtlich und schädlich darstellt, der allem misstraut, was er nicht selbst erfahren und durchdacht hat, das ist der typische Aufklärer. Doch Rousseaus Einfluss reicht weiter. Seine Hochschätzung des inneren Erlebens, der Blick in die große Spannweite des Gefühls im Gegensatz zur Außenwelt, das Lob der Einsamkeit, die Sehnsucht nach der unberührten Natur – all das wird prägen, was nach der Jahrhundertwende unter dem Namen „Romantik“ in Erscheinung treten wird.