Konfrontative Lebenssplitter
Freepsum. Was geschieht, wenn man eine Regisseurin, die der reinen Ästhetik zu huldigen vorgibt, mit einer Intellektuellen und Schriftstellerin zusammentreffen lässt, die mit kühler Kritik die Haltung der Filmerin unterläuft und ihr Nazi-Propaganda vorwirft? Und wie aber sieht diese Konfrontation aus, wenn sie in Wirklichkeit nie stattgefunden hat? Mit den unterschiedlichen Lebensentwürfen von Leni Riefenstahl und Susan Sontag beschäftigt sich ein szenischer Dialog des belgischen Autors Stijn Devillé im Kultur-Gulfhof Freepsum: „Leni und Susann“.
Fiktionen zu schreiben, ist die eine Seite. Diese aus Fakten heraus zu entwickeln und in einen hochkarätigen Dialog münden zu lassen, ist eine hohe Kunst, die hier in Perfektion umgesetzt wurde. So konnten sich Kerstin Wittstamm als Leni und Carolin Serafin als Susan einen Schlagabtausch liefern, der es in sich hat.
Worum geht es? Riefenstahl hatte Filme zu den NSDAP Parteitagen 1933 und 1934 und zur Olympiade 1936 gedreht, die als Propaganda-Stücke par excellence gelten. Sontag schrieb einen Essay, in dem sie diese Propaganda als „ästhetische Anziehungskraft des Faschismus“ entlarvt. In ihren Bücher zu dem sudanesischen Stamm der Nuba habe Riefenstahl dieselben Kriterien angewandt wie in den oben genannten Filmen: Überhöhung der körperlichen Schönheit ohne Einbeziehung deren kultureller oder politischer Hintergründe.
Riefenstahl lehnt es kategorisch ab, als Anhängerin des Nationalsozialismus bezeichnet zu werden. Sie habe nie etwas anderes darstellen wollen als Kunst. „Und Kunst hat nichts mit Politik zu tun“, wehrt sie sich gegen die ununterbrochenen Angriffe der amerikanischen Philosophin, die unter anderem mit knallharten Direktheit auf Riefenstahls Tage als Kriegsberichterstatterin in Polen verweist, wo sie im Auftrag Hitlers eine Dokumentation des Polenfeldzugs filmen sollte.
Riefenstahl ist als 96-Jährige dargestellt, die mit ungebrochenem Lebenswillen ihre Version der Zeitgeschichte benennt. Sontag ist 65 Jahre alt, schwer an Krebs erkrankt und argumentiert in nüchternem Bewusstsein ihres Zustandes Fakten, die anderes aussagen. Der Autor reflektiert seinen Handlungsstrang in dreifacher Weise. Zum einen erzählen beide Frauen ihre eigene Geschichte aus dem eigenen Erleben. Sie nehmen also eine Binnensicht ein. Zum zweiten berichten Leni und Susan Fakten, wobei sie eine Außensicht einnehmen, die aus dem „ich“ ein „sie“ macht. Drittens kommt es zu den Dialogen, in denen die eigentliche Auseinandersetzung stattfindet.
In dieser Betrachtungsweise, die Lebenssplitter wie in einem Kaleidoskop vermittelt, entspinnen sich nun zwei Lebensläufe, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Serafin stellt eine im wahrsten Sinne des Wortes aufrechte Person dar, die in der Lage ist, persönliche Befindlichkeiten zur Seite zu schieben und analytisch zu argumentieren. Wittstamm spielt Leni als Gefangene ihrer eigenen Rechtfertigungsversuche. Dabei gelingt ihr in beeindruckender Weise der Wechsel in der Altersdarstellung: Leni als agile 70-Jährige wandelt sich innerhalb eines Wimpernschlages in eine zwar gebrechliche, aber keineswegs weniger wortgewandte 96-Jährige.
Im Blick zurück offenbart Riefenstahl ihre glückliche Kindheit mit einer zugewandten Mutter, die ihre Tochter in jeder Weise unterstützt und ihr alle Wege offen lässt. So wird Leni zunächst Tänzerin, dann Abenteuerin, die hohe Berge besteigt, ferne Länder bereist und mit 71 Jahren noch Tauchen lernt. Dagegen lebt Susan in unglücklichen Verhältnissen, und oft genug muss sie – als Sechsjährige – ihre eigene lebensuntüchtige Mutter bemuttern. So erklärt sich wohl auch, wie es zu den Haltungen der beiden Frauen kommt: Riefenstahl, die auf die reine kulturelle Ästhetik fokussiert ist, Sontag, die sich schon sehr früh einer harten Realität stellen muss.
Das Stück endet nach eineinhalb Stunden offen. Es gibt nicht wirklich Kategorien wie Siegerin und Besiegte, allenfalls Tendenzen. Doch das, was in dem Stück auf den Tisch kam, gibt ausreichend Stoff für eigenes Weiterdenken. Und genau das ist es, was das Theater leisten kann und muss.