Streiflichter der Aufklärung
Teil 7: Ein angehender Philosophenkönig zwischen Wolff und Voltaire
Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.
Von DR. MICHAEL WEICHENHAN
Emden. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verkörperte Christian Wolff (1679 bis 1754) wie kaum ein zweiter das philosophische Denken der Aufklärung in Deutschland. Vernünftig ging es hier zu, sehr gründlich und sehr ordentlich. Seine oft dickleibigen Abhandlungen zur Logik, über die menschliche Erkenntnisfähigkeit, über Gott, die Welt und die Seele des Menschen, über die beste Einrichtung eines Staates oder der Staaten untereinander, versicherten sogleich im Titel, dass man es hier ausschließlich mit „vernünftigen Gedanken“ zu tun haben werde.
In das Gedankengebäude des schier allwissenden Professors, der als Mathematiker begonnen hatte, pfiff kein kalter Wind des Zweifels und der Verunsicherung an überkommenen Auffassungen. Dass ihn wegen seiner Rede über die Philosophie der Chinesen seine Kollegen der theologischen Fakultät des Atheismus verdächtigt und der preußische König auf Grund dieses Verdachts sogar aus dem Lande geworfen hatte, mochte zwar seinen Ruf als aufgeklärter Denker stärken, blieb aber ein groteskes Missverständnis.
Wolff zeigte, dass man, wenn man nur methodisch sauber und vorsichtig, sich Schritt um Schritt vortastend, vorging, die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, die zweckvolle Einrichtung der gesamten natürlichen Welt beweisen und entsprechend das Zusammenleben der Menschen optimal organisieren konnte. Philosophen waren dabei unverzichtbar, denn nur sie konnten Theologen, Juristen und Medizinern über die Grenzen ihres jeweiligen Faches hinaus die wahren Gründe für das aufzeigen, was bei ihnen als gut und richtig galt. Der Staat bedurfte der Philosophen, überhaupt sei zu wünschen, gab Wolff gelegentlich zu verstehen, wenn der Herrscher eines Landes oder Reiches selbst ein Philosoph wäre.
Nun stand es nach der Entfernung Wolffs aus seiner Professur in Halle im Jahre 1723 für die Umsetzung solcher Überlegungen jedenfalls in Preußen nicht gerade günstig. Was immer man von dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm (1688 bis 1740) halten mag: einem Philosophenkönig glich dieser jähzornige, aber zutiefst fromme Mann mit seiner Faszination fürs Militär, der sich von ausländischen Diplomaten leicht hinters Licht führen ließ, keineswegs. Aber er hatte einen Sohn, der anscheinend vollkommen anders war als der ruppige Vater: Kronprinz Friedrich (1712 bis 1786), der spätere König, den man den Großen nennen sollte, war offenbar ein sensibler Schöngeist, von scharfer Intelligenz, musikalisch und belesen. Nach einem missglückten Fluchtversuch vom Vater schwer gedemütigt, bereitete er sich ab 1736 auf seinem Schloss in Rheinsberg auf die Thronfolge vor.
Und hier beginnt der zweite Teil der Auseinandersetzungen um die Philosophie der Chinesen, genauer gesagt: um die Philosophie Christian Wolffs, und zwar im Rahmen von Intrigen, die nun nicht mehr von Professoren, sondern Diplomaten gesponnen wurden und machtpolitisch angelegt waren.
Zum Bestand der Johannes a Lasco Bibliothek gehört ein etwas seltsam anmutendes Werk, der „Recueil de nouvelles piecés philosophiques concernant le différent renouvellé entre Messieurs Joachim Lange et Chretien Wolf “(Sammlung neuer philosophischer Schriften zum erneut ausgebrochenen Streit zwischen Joachim Lange und Christian Wolff), erschienen in der – laut Titel – zweiten Auflage Leipzig 1737. Auch 16 Jahre nach Wolffs Rede über die Philosophie der Chinesen war also der Streit zwischen Joachim Lange, einem führenden Kopf der Hallenser Pietisten, und Wolff nicht erkaltet. Nun ist an dieser Sammlung auf den ersten Blick bemerkenswert, dass sie auf Französisch erschien, dessen sich weder Wolff noch Lange bedienten, zudem fehlt die Angabe eines Herausgebers, stattdessen gibt es geheimnisvolle Kürzel der Übersetzer: „Traduit de l’Allemand par A. de C.“ heißt es da bei der Streitschrift von Lange, „Traduit de l’Allemand par un Qu—T“ beim Antwortschreiben Wolffs. Warum die Geheimniskrämerei?
Den Schlüssel bietet die Auflösung des Kürzels „Qu—T“, die, wie Johannes Bronisch in seiner faszinierenden Studie „Der Kampf um Kronprinz Friedrich“ (Berlin 2011) gezeigt hat, wohl gar nicht so leichtgefallen ist: es ist als „Quinze-Vingt“ (wörtlich „fünfzehn [mal] zwanzig“) aufzulösen, die Bezeichnung für die „Maison des Quinze-Vingts“, ein Hospital, das König Ludwig der Heilige (1214 bis 1270) für 300 Blinde gestiftet hatte. Als „Quinze-Vingt“ hatte sich der pommerische Adlige Ernst Christoph von Manteuffel (1676 bis 1749) bei einer Unterredung mit dem jungen Kronprinzen bezeichnet, und diesen Namen verwendete Friedrich auch in seinen Briefen an ihn. In der 1789 erschienenen Ausgabe von Briefen und Schriften ist ein Brief an Manteuffel vom 11. März 1736 abgedruckt, in dem er angeredet wird: „Mein lieber Quinze-vingt“ (S. 5). Wer weitsichtig Politik machen will, tut mitunter gut daran, sich erst einmal blind zu stellen.
Manteuffel war ein erfahrener, mit allen Wassern gewaschener Diplomat, gebildet, sprachgewandt, ein Anhänger der Wolffschen Philosophie. Zuletzt hatte er als Minister im Dienst des sächsischen Kurfürsten und polnischen Königs Augusts des Starken Fäden zwischen Sachsen und Preußen gezogen. Daneben pflegte er im Verborgenen die Verbindung zwischen Sachsen und dem Habsburgischen Kaiser, was im Grunde auf Spionage hinauslief. Bevor das gefährliche Spiel, das er da betrieben hatte, tatsächlich aufflog, ließ er sich im August 1730 ehrenhaft und finanziell gut versorgt in den Ruhestand verabschieden und zog sich auf seine Güter in Pommern zurück. Abwegig waren seine intensiven Kontakte zum Wiener Hof ohnehin aus sächsischer Sicht insofern nicht gewesen, als Sachsens Interesse darauf gerichtet war, in Polen den Einfluss Frankreichs gering zu halten, was wiederum den Interessen des Kaisers entsprach. Als nach dem Tod von August dem Starken 1733 der polnische Thron zu besetzen war, setzte Frankreich zunächst seinen Kandidaten durch, der sich aber nur drei Jahre halten konnte, um dann durch den Sachsen August III. ersetzt zu werden.
Der pensionierte Manteuffel wurde nach 1733 wieder verstärkt in Berlin tätig, vor allem galt es, da der Soldatenkönig gesundheitlich stark angeschlagen war, sich ein Bild von dem 21 Jahre alten Kronprinzen zu machen. Politisch stand im Vordergrund, das gute Verhältnis zwischen Preußen und Sachsen und zum Kaiser in Wien zu sichern, und der geschulte Beobachter, der Manteuffel war, hatte bald herausgefunden, dass man den künftigen König weniger mit Wein oder Frauen beeindrucken, wohl aber durch Philosophie beeinflussen konnte. Dass er selbst ein Verehrer Wolffs war, erwies sich als geradezu ideal, kamen dessen Vorstellungen von einem Philosophenherrscher den Neigungen Friedrichs doch entgegen, ebenso seinem Bedürfnis, sich von seinem frommen und eine gewisse Grobheit zur Schau stellenden Vater zu unterscheiden. Wolff zu rehabilitieren und aus Marburg wieder nach Preußen zu holen musste Herzensangelegenheit des Prinzen sein.
Tatsächlich entwickelte sich zwischen dem vergleichsweise betagten Diplomaten – er war zwölf Jahre älter als Friedrich Wilhelm – und dem jungen Friedrich bald ein intensives Lehrer-Schüler-Verhältnis. Manteuffel versuchte, den unzweifelhaften Scharfsinn und den unsystematischen Kenntnisreichtum seines Zöglings im Geiste Wolffs zu ordnen und in geregeltere Bahnen zu lenken, vor allem aber dessen Blick auf die Verpflichtung eines Herrschers auf Ausgleich widerstrebender Interessen zu richten, auf Beförderung allgemeiner Wohlfahrt, auf die Begrenzung königlicher Macht durch die Gesetze der Natur und der Vernunft. All das waren Grundsätze der politischen Philosophie Wolffs. Abgesichert war das komplizierte Gedankengebäude durch präzise Logik und überdacht von einer rationalen Theologie.
Ein philosophisches System wie das von Christian Wolff verlangt im Grunde nur eines: man muss sich ihm anvertrauen wie ein Schwimmer dem Wasser. Man darf dem natürlichen Auftrieb keinen Widerstand entgegensetzen, muss ihn vielmehr durch Atem- und Bewegungstechnik vergrößern. Beherrscht man sie, trägt das Wasser, und es stellt sich das angenehme Gefühl von Leichtigkeit ein: Die Welt wird klar. Manteuffel muss ein zeitweise sehr erfolgreicher Schwimm-Lehrer gewesen sein, nicht nur bei dem Kronprinzen Friedrich, sondern sogar bei dessen Vater. Nachdem dieser gehört hatte, dass der einstige Freigeist Manteuffel ausgerechnet durch die Philosophie Wolffs zu einem gläubigen und rechtschaffenen Mann geworden war, vollzog er eine Kehrtwendung, empfahl dessen Bücher zur Lektüre und vertiefte sich sogar selbst in die stattlichen Werke.
Der Streit zwischen Lange und Wolff wurde wieder aufgerollt, wobei jene bereits erwähnte Sammlung von Schriften eine entscheidende Rolle spielte. Eine Kommission, die mit lutherischen und calvinistischen Theologen und führenden Akademikern besetzt war, bestätigte die Richtigkeit der von Wolff vorgebrachten Argumente gegen die Vorwürfe Langes. Wolff war glänzend rehabilitiert.
Auch der Kronprinz schwebte, jedenfalls vorläufig, wie ein geübter Schwimmer in dem Wasser der Wolffschen Philosophie. Seiner Liebe zum Französischen gemäß übersandte er Voltaire zusammen mit einem bewundernden Brief jenes Schriftenkonvolut. Er pries sowohl den Denker Wolff wie den berühmten Herrn Voltaire. Nun tut man Voltaire wohl mit der Meinung nicht unrecht, seiner außergewöhnlichen Begabung als Schriftsteller auf so verschiedenen Bereichen wie der Schönen Literatur, der Wissenschaft, der Essayistik und der Geschichtsschreibung sei wohl nur seine Eitelkeit gleichgekommen. Obwohl ihn das Lob Wolffs zweifellos kränkte, konnte er den Schmeicheleien nicht widerstehen und witterte seinerseits die Chance, diesem vielversprechenden Edelstein aus dem ansonsten als barbarisch verachteten Deutschland selbst den nötigen Schliff zu geben.
In den Jahren 1736 bis zur Thronbesteigung Friedrichs am 31. Mai 1740 entwickelte sich ein Tauziehen zwischen Voltaire und Manteuffel. Mit der Zeit musste dieser mit wachsender Besorgnis feststellen, dass der selbstbewusster werdende Prinz sich immer weniger dem sanften Auftrieb des Wolffschen Systems hingab, aber die vermeintlich unumstößlichen Gewissheiten mit allerhand Einwänden untergrub. Voltaire, dem die ganze Philosophie von Leibniz und Wolff mit ihren glatten Harmonisierungen lächerlich vorkam, dem Wolffs schwerfällige Pedanterie ein Gräuel war und Theologie, sei sie noch so „rational“ eingekleidet, für ein Hirngespinst hielt, gewann nach und nach an Boden. Am Ende hat er gesiegt. Es war nicht nur ein philosophischer, sondern auch ein machtpolitischer Sieg. Wolffs Philosophie passte mit ihrer Ausrichtung auf Ausgleich und Harmonie, mit ihrem Ziel, Macht unsichtbar werden zu lassen, indem sie in Recht überführt wurde, recht gut auf das Alte Reich, diesem seltsamen Gebilde, das deshalb hielt, weil sich alle Kräfte und Mächte gegenseitig neutralisierten. Voltaire hingegen lehrte den Prinzen, dass es nicht auf Neutralisierung, sondern Entfaltung der Kräfte ankommt.
Mit einer lange vorbereiteten Schrift, Auszügen aus Werken Wolffs, der Vorliebe des Königs für die französische Sprache entsprechend übersetzt, versuchte unmittelbar nach der Krönung der Kreis der Wolffianer noch zu retten, was möglicherweise noch zu retten war. Der Titel appellierte an das Selbstbild des einstigen Kronprinzen, Philosoph zu sein: „Der philosophische König und der königliche Philosoph“. Ob der neue König überhaupt hineinsah, ist nicht sicher.
Hingegen ist sicher, dass Manteuffel am 8. November 1740 aus Berlin ausgewiesen wurde, Christian Wolff am 6. Dezember nach Halle zurückkehrte und das preußische Heer am 16. Dezember mit 20 000 Mann in Schlesien einmarschierte. Das war der unmittelbare Angriff auf Habsburg, eine ernste Einschüchterung Sachsens und eine empfindliche Störung des Gleichgewichts innerhalb des Reiches. Dass zwischen der Rückkehr Wolffs und dem Beginn des Krieges nur zehn Tage liegen, macht auf seine Weise deutlich, dass Friedrich II. zwischen Philosophie und Königtum bzw. Macht eine scharfe Grenze zu ziehen gewillt war.