Streiflichter der Aufklärung
Teil 8/1: Kometen, Kriege, Katastrophen
Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.
Von DR. MICHAEL WEICHENHAN
„Es ist eine Zeit der Tränen und Not,
Am Himmel geschehen Zeichen und Wunder,
Und aus den Wolken, blutigrot,
Hängt der Herrgott den Kriegsmantel runter.
Den Kometen steckt er wie eine Rute
Drohend am Himmelsfenster aus.“
Kometen künden Unglück an. Diese Auffassung war so fest im kulturellen Gedächtnis Europas verankert, dass noch Friedrich Schiller sie ohne weiteres in den Soldatengesprächen in „Wallensteins Lager“ auf die Bühne bringen konnte. Schiller war auch Historiker. Möglicherweise wusste er, dass 1618 sogar mehrere Kometen am Himmel sichtbar geworden waren, deren bedrohlicher Anblick die Menschen zunächst in Angst und Schrecken versetzt hatte, dann aber bald als Vorzeichen des Krieges gedeutet worden war, an dem sich auch jener Albrecht von Wallenstein beteiligte. Der Dreißigjährige Krieg hatte unter dem Schein von Kometen begonnen. Auch im Jahre 1914 war solch ein riesiger Schweifstern am Nachthimmel sichtbar geworden.
Bis ins ausgehende 17. Jahrhundert hinein galten Kometen nahezu unangefochten als spontan entstehende Körper am Himmel. Da dort sonst alles regelmäßig abzulaufen schien, Mond, Sonne und die Planeten ihre geordneten Bahnen ziehen, ebenso die Fixsterne, glichen jene mit einem langen Schweif versehenen Gebilde, die scheinbar aus dem Nichts entstanden und nach gewisser Zeit wieder verschwanden, nächtlichen Ruhestörern, die mit tiefgreifenden Veränderungen in der Welt des Menschen in Verbindungen stehen mussten: mit Seuchen, Krieg und politischen Umstürzen. Auch wenn sie nicht selbst das Unheil bewirkten, waren sie doch Zeichen, die Gott den Menschen vor Augen stellte, um sie zu warnen: eine Rute, die der strenge himmlische Vater drohend erhob. „Die brennenden Cometen sind traurige Propheten“ reimte der große lutherische Lieddichter Paul Gerhardt (1607 bis 1676).
Aufklärung bedeutet unter anderem, den engen Zusammenhang zwischen der kleinen Welt, in der Menschen leben, und der unermesslichen Weite der großen Welt, derer sie in den dunklen Nächten innewerden, zu lockern. Zwar war Astronomen schon seit vielen Jahrhunderten klar, dass die Erde im Vergleich zum Kosmos winzig ist, ein Staubkorn geradezu. Mochte die Erde auch klein sein, so war sie doch der Platz, auf den der Schöpfer sein Ebenbild, den Menschen, gesetzt und mit allem versorgt hatte, was er zum Leben brauchte; es entsprach, so glaubten zahlreiche Autoren der Frühen Neuzeit, der Güte Gottes, mittels Kometen die Menschen zu warnen und zur Umkehr zu bewegen. Der gesamte Kosmos, so schien es, nimmt teil am Geschick des Menschen. Diese Auffassung verlor im ausgehenden 17. Jahrhundert nach und nach an Überzeugungskraft.
Es war ein polnischer Adliger, der Sozinianer Stanisław Lubieniecki (1623 bis 1675), der, angeregt durch die Erscheinung zweier Kometen in den Jahren 1664 und 1665, den angenommenen Zusammenhang zwischen Unglück und ihrem Sichtbarwerden einmal als Historiker untersuchte. Seine groß angelegte „Geschichte der Kometen, von der Sintflut bis zum gegenwärtigen Jahr 1665“, 1667 in Amsterdam erschienen, verzeichnete auf 464 Seiten im Folioformat insgesamt 415 Erscheinungen dieser auffälligen und Schrecken erregenden Himmelsobjekte. Das Ergebnis der beeindruckenden Zusammenstellung war ernüchternd: Zwar gab es in den Jahren, in denen ein Komet erschien, irgendwelche Unglückfälle, den Tod eines Königs, verheerende Unwetter, Seuchen oder Kriege zu vermelden, aber es gab auf der anderen Seite auch erfreuliche Ereignisse. Nicht nur folgt auf den verstorbenen ein neuer König, sondern in einem Krieg gibt es nicht nur den Verlierer, sondern auch den glücklichen Gewinner einer Schlacht. Mit anderen Worten: Kometen zeigten nicht nur Unglück, sondern auch Glück an. Darüber hinaus ereignete sich das, was Menschen als Unglück oder gar Katastrophe zu bezeichnen geneigt sind, ohne dass ein Komet sichtbar geworden war.
Das prächtige Titelbild des „Theatrum cometicum“ (Schauplatz der Kometen) veranschaulicht Lubienieckis Programm. Dem göttliche Herrscher, der unsichtbar im Himmel (angedeutet durch zwei Hände, Wolken und einen Ausschnitt aus dem Tierkreis) thront, stehen zu seiner Rechten und zu seiner Linken – für den Betrachter des Bildes sind das die linke und rechte Bildhälfte – Kometen zur Seite: zu seiner Rechten steht der Komet mit dem Regenbogen und einem Zweig eines Ölbaums zusammen, zur Linken mit einem Blitz und einem Rutenbündel – Zeichen des Glücks und der Strafe, des Friedens und des Kampfes. Die lateinischen Beischriften erklären: „bona bonis, mala malis“, d.h.: Gutes den Guten, Böses den Bösen.
Auf den ersten Blick scheinen Kometen dann überhaupt keine Bedeutung mehr zu haben. Denn wenn ein und derselbe Gegenstand etwas und auch sein Gegenteil anzeigt, dann zeigt er in Wahrheit nichts an. Wenn beispielsweise ein Gefäß mit einem Totenkopf und zwei gekreuzten Knochen versehen ist, so heißt das eindeutig, dass sich ein Gift in ihm befindet, nicht aber, dass es sich um eine tödliche oder um eine ungefährliche Flüssigkeit handelt. Das rote Licht an der Ampel bedeutet „Halt!“, nicht aber: „Du kannst fahren oder stehenbleiben“.
So radikal brach Lubieniecki mit den herkömmlichen Auffassungen von den Kometen als Unglücksboten nun aber keineswegs. Nach wie vor galten sie ihm als Zeichen, die Gott sendet, aber nicht, um den Menschen Unglück vorauszusagen, sondern ihnen ein bestimmtes Verhalten anzusinnen.
Kometen ähneln deshalb dem Verkehrszeichen, das auf die Gefahr hinweist, ins Schleudern zu geraten: Dies zeigt ja nicht an, dass man auf den nächsten Metern verunglücken wird, sondern eine erhöhte Gefahr besteht, die Kontrolle über das Fahrzeug zu verlieren. Also gilt es, aufmerksam zu sein und langsamer zu fahren. Entsprechend gilt: Kometen weisen nicht schlechthin auf Unheil hin, sondern nur insofern, als die Menschen nicht willens sind, den göttlichen Geboten entsprechend zu handeln.
Noch für Lubieniecki galt grundsätzlich, dass der Mensch sich von den Kometen angesprochen fühlen sollte. Auch wenn Seuchen, Kriege und andere Katastrophen aufgetreten waren, ohne dass Kometen geleuchtet hatten, waren sie doch Bestandteil der für den Menschen wohltätigen Weltordnung. Es liegt auf der Hand, dass dieser Auffassung der Boden entzogen wird, wenn sich herausstellt, Kometen seien gar keine spontan entstandenen Gegenstände, sondern dauerhafte Himmelskörper, die sich auf solchen Bahnen um die Sonne bewegen, dass sie nur in großen Abständen ins Gesichtsfeld der Erdbewohner geraten. Es gibt tatsächlich einen Kometen, an dem sich dies leicht zeigen lässt, da er in dem kurzen Abstand von nur rund 75 Jahren sichtbar wird. Seinen Namen, „Halleyscher Komet“, erhielt er nach dem englischen Astronomen und Mitarbeiter Isaac Newtons, Edmond Halley (1652 bis 1742), der ihn 1682 beobachtete, daraus dessen stark elliptische Bahn berechnete und seine Wiederkehr im Jahr 1758 voraussagte.
Die Voraussage traf genau genug ein, um als bestätigt gelten zu können, und Newtons Physik war in der Lage anzugeben, warum dies so eintreten musste. Kometen, soviel war auf wissenschaftlichem Gebiet seit Beginn des 18. Jahrhunderts klar, sind Teil der Einrichtung des Weltalls und somit keine Maßnahmen Gottes, um die Menschen vor den schlimmen Folgen ihres verderblichen Tuns abzuhalten. Auch wenn die Kometen immer weniger als Unglücksboten, drohend erhobene Ruten und stumme Propheten galten, gab es immer noch Seuchen, Kriege und Naturkatastrophen. Zeigte sich in ihnen die strafende Hand Gottes, die nunmehr ohne Vorwarnung durch himmlische Zeichen das Menschengeschlecht züchtigte?
Es war der Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716), ein Mann, der auf nahezu allen Gebieten des menschlichen Wissens nicht nur Bescheid wusste, sondern bahnbrechende Beiträge zur Forschung vorlegte – von Logik und Mathematik über Physik, Geschichtsschreibung und Rechtswissenschaft bis hin zu Theologie und Philosophie -, der die drei Größen Mensch, Welt und Gott in ein neues Verhältnis setzte. Der Mensch, Bewohner eines kleinen Planeten eines Sonnensystems, das von unzähligen Sternen umgeben war, sollte sich als Teil dieser seine Vorstellungskraft von Größe und Komplexität übersteigenden Welt verstehen lernen. Gott hatte die Welt geschaffen, daran hatte auch Leibniz keinerlei Zweifel, aber die Vorstellung, dass er wie ein überstürzt zu Werke gehender Geselle immer wieder korrigierend in den Weltlauf eingreifen musste, um Fehler zu beheben, die die Menschen anrichteten oder die ihnen widerfuhren, schien ihm einer Gotteslästerung gleichzukommen. Vielmehr hatte er die Welt seiner Allwissenheit entsprechend so eingerichtet, dass sie „die beste aller möglichen Welten“ ist. Bestmöglich heißt beispielsweise, dass in ihr ein Höchstmaß an Gütern realisiert ist.
Was so abstrakt klingt, kann man sich an einem intakten Ökosystem veranschaulichen. Ein natürlich gewachsener Wald beherbergt nicht nur eine Vielzahl von Bäumen, sondern auch von anderen Pflanzen, Pilzen und Tieren, er ist immun gegen Schädlinge und Schwankungen der Witterung. Selbstverständlich findet hier ein unablässiger Kampf um Licht und Nahrung statt, d.h. Tod und Leben befinden sich im Gleichgewicht. Ein solcher Wald wird nicht die größtmögliche Menge an Nutzholz produzieren, er wird auch nicht wie ein Park die denkbar größte Artenvielfalt an Gehölzen, malerische Aussichten oder zahlreiche bunte Blumen aufweisen, aber er ist genau das, was unter bestimmten natürlichen Bedingungen das beste ist. Ohne Zweifel hätte Leibniz die heute von manchen vertretene Vorstellung gefallen, dass ein wirklicher Urwald als „Superorganismus“ zu betrachten ist, in dem alle Lebewesen miteinander verbunden bzw. „vernetzt“ sind.
Naturkatastrophen, Kriege oder Seuchen stellen für Leibniz deshalb keinen Einwand gegen die Qualifikation der Welt als bestmöglicher dar. Man könne gar nicht wissen, ob eine Welt, in der es keine Krankheiten oder Kriege gebe, tatsächlich besser sei als die, in der Leibniz lebte: das war eine, aus der die Spuren des Dreißigjährigen Krieges allmählich verschwanden. Immerhin hatte man aus den Katastrophen gelernt und sich auf eine stärker auf Verhandlungen und Ausgleich ausgerichtete Politik geeinigt; nationale Interessen und Sicherheit zählten mehr als blindwütiger Fanatismus. Wissenschaften und Technik erlebten einen einzigartigen Aufschwung, allmählich verbesserten sich auch die Lebensverhältnisse. Schrecken und Unglücksfälle, so Leibniz, haben auch ihre guten Seiten, insofern man sie künftig zu vermeiden versucht; Not spornt an, Auswege zu suchen.
In seinem einst bekanntesten Buch, der „Theodizee“, diesem philosophischen Höhenweg des Optimismus, der manche Leser beim Blick in die tiefen Abgründe der Weltgeschichte hat schwindlig werden lassen, empfahl Leibniz, den Blick auf das Ganze zu richten. Alle lebendigen Wesen sehen die Welt aus ihrer Perspektive: das gilt von Pflanzen, die nach Licht, Wasser und Mineralien streben, über Tiere bis hin zum Menschen. So klein und begrenzt diese Perspektiven auch erscheinen mögen, so zerstörerisch die Natur durch das Konkurrieren um Nahrung und das Fressen-und-Gefressenwerden auch ist: insgesamt gesehen befindet sie sich in einem stabilen Zustand.
All die einzelnen Perspektiven vereinigen sich zu einem gewaltigen Spiegelbild des Ganzen. Menschen bilden da keine Ausnahme, auch sie betrachten die Welt aus ihren Perspektiven, verändern sie, indem sie sie nach ihren Bedürfnissen ausrichten. Aber nicht der Mensch, geschweige denn die Erwartungen an das Glück einzelner Personen, stellen das Maß dar, das über die Qualität der Welt zu entscheiden erlaubt. Von ihm, dem mit Vernunft begabten Wesen, das frei ist, sich zum Guten wie zum Bösen zu entscheiden, ist nur zu erwarten, nach Kräften zur Verbesserung der Welt beizutragen und sich um einen moralisch hochwertigen Lebenswandel zu bemühen. Allein Gott, der diese Welt unter anderen möglichen ausgewählt und realisiert hatte, hat buchstäblich „den Überblick“: er sieht die Welt in ihrer Gesamtheit ohne perspektivische Verzerrung.
Die „Theodizee“, die Rechtfertigung Gottes angesichts all der Leiden, denen die Menschen ausgesetzt waren und sind, atmet den Geist des Aufbruchs in der zweiten Hälfte des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Lange Zeit hatte die Erde als „Jammertal“ gegolten, als tiefster Punkt des Kosmos, eine dreckige Kloake der Sterblichkeit, wie Montaigne (1533 bis 1592) einmal formuliert hatte. Das war vorbei. Selbstverständlich erschien die Welt alles andere als perfekt, selbst die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges hatten nicht ausgereicht, die Brandfackeln der Kriege zu löschen.
Dennoch glaubte Leibniz, dass Schritt um Schritt Konfrontation durch Kooperation ersetzt werden könne: Gelehrte schrieben über Landes- und Konfessionsgrenzen hinweg Briefe, in denen sie sich über ihre Gedanken und Erfindungen austauschten; Leibniz’ eigenes Netzwerk reichte von Spanien bis nach Russland und China. Allmählich werde die bewohnte Welt durch all die Weltverbesserer in Form einsichtiger Gelehrter, Forscher und Erfinder, wie Leibniz selber einer war, zum Besten der Menschheit zusammenwachsen.
► Leibniz’ Vorstellungen sind nicht unwidersprochen geblieben. Davon wird im nächsten Tel der Serie über die Aufklärung die Rede sein.