Streiflichter der Aufklärung

Teil 8/2: Kometen, Kriege, Katastrophen

Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.

Von DR. MICHAEL WEICHENHAN

Emden. Aufklärung bedeutet unter anderem, den engen Zusammenhang zwischen der natürlichen und der moralischen Welt zu lockern. Im vergangenen Beitrag hatten wir das an Hand der Kometen gesehen: Diese selten erscheinenden Gäste am Nachthimmel geben, so stand seit Ende des 17. Jahrhunderts weitgehend fest, dem Menschen nichts zu verstehen, was sein Handeln betrifft. Sie warnen nicht, sie strafen nicht, sie verheißen nichts, sie ziehen lediglich ihre Bahn.

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716) wiederum hat den Versuch unternommen, das freie Vernunftwesen Mensch in die Naturordnung einzubetten. Das konnte er tun, weil die Welt selbst moralisch nicht neutral war: als Geschöpf des guten Gottes war sie die beste aller möglichen Welten. Ihre Pracht stand vor aller Augen. Forschern enthüllte sich die Schönheit mathematisch formulierbarer Naturgesetze. Und auf lange Sicht verschwinden die Ausschläge von Glück und Unglück, von Gutem und Bösem, die die einzelnen Menschen erleben, so wie beim Würfelspiel sich auf die Dauer eine Gleichverteilung geworfener Zahlen einstellt, so dass Pechsträhnen und Glücksphasen langfristig nur der leicht gekräuselten Oberfläche eines Sees gleichen, über die ein Wind streicht. Über die Individuen und ihre Schicksale geht „die beste aller möglichen Welten“ freilich ebenso hinweg wie ein Ökosystem über die einzelnen Wesen, die es während einer bestimmten Zeitspanne ausmachen.

Albrecht von Haller, Stich von P. F. Tardieu; 1757. © Wellcome Images https://wellcomecollection.org/works/csqrm6jz

Albrecht von Haller (1708 bis 1777), überragender Mediziner, Biologe und Gelehrter mit dem für die Zeit typischen Hang zu enzyklopädischem Wissen, hat in einem 1734 veröffentlichten Gedicht „Uber den Ursprung des Ubels“ den Geist der Leibnizschen „Theodizee“ noch einmal zu Wort kommen lassen. Nachdem er die überwältigende Schönheit der Natur gepriesen hat, wendet er sich an Gott:

Du hiessest Wesen seyn, die du beglücken könntest,
Und deine Seligkeit, die aus dir selber fließt,
Schien dir noch seliger, so bald sie sich ergießt.
Wie daß, o Heiliger, du dann die Welt erwählet,
Die ewig sündiget und ewig wird gequälet?
War kein vollkommner Riß im göttlichen Begriff,
Dem der Geschöpfen Glück nicht auch entgegen lief?
Doch wo gerat ich hin? Wo wird’ ich hingerissen,
Gott fordert ja von uns zu thun und nicht zu wissen,
Sein Willen ist bekannt, er heißt die Laster fliehn,
Und nicht, warum sie sind, vergebens sich bemühn
.

Albrecht von Haller, Gedichte, Wien 1765, Signatur JaLB: Philol. 8° 0538 Eb. Die zitierte Passage findet sich Seite 113f

Selbstverständlich bringt die Einsicht, die Welt sei im Ganzen gesehen gut, ja so gut wie nur möglich, physischen Schmerz, Trauer und Verbitterung über erlittenes Unrecht nicht aus der Welt. Denn es widerstrebt dem Menschen, sich als ein beliebiges Lebewesen zu verstehen, das nur als austauschbares Exemplar einer Art, nicht aber als Individuum zählt. Es mag ja richtig sein, dass man das Gute tun, aber keine Zeit darauf verschwenden solle, nach dem Grund für so viel Widriges und Böses zu suchen, aber zum Schweigen lässt sich die Frage eben doch nicht bringen. Gerade dann nicht, wenn man sich – wie Haller – sogleich wieder zur Ordnung ruft.

Aufschlussreich genug, dass es im 18. Jahrhundert nicht die von Menschen angerichteten Grausamkeiten sind, die die Rechtfertigung Gottes, wie sie Leibniz vorgetragen hatte, ins Wanken bringen, sondern eine Naturkatastrophe. Am 1. November 1755 wurde Lissabon von einem Erdbeben erschüttert. Es geschah an Allerheiligen, die zahlreichen Kirchen waren mit Gläubigen gefüllt, als ab 9.30 Uhr drei schwere Erdstöße nahezu die gesamte Stadt zunächst in Schutt, wegen der von umgestürzten Kerzen verursachten Brände dann auch in Asche legten. Wer sich ans Ufer hatte retten können, wurde von einer riesigen Flutwelle zerschmettert. Mehr als 30 000 Menschen kamen binnen kürzester Zeit ums Leben. War das tatsächlich die gut eingerichtete Welt?

Nun, man konnte, insbesondere als Protestant im fernen Deutschland, sich die Katastrophe nach dem alt bewährten Schema „Böses den Bösen“ zurechtlegen. Lissabon, die schwerreiche und tief katholische Stadt, berüchtigt wegen vieler Jesuiten und einer gnadenlosen Inquisition, war heimgesucht worden von der strafenden Hand Gottes, die zielgenau einen verheerenden Schlag gegen den katholischen Aberglauben und die aus dem Überseehandel stammenden Reichtümer geführt hatte.

Man konnte allerdings auch die Herausforderung aufnehmen, die Leibniz’ Philosophie formuliert hatte. Ihr zufolge hatte Gott nicht Lissabon und seine Bewohner gestraft, sondern alles war geschehen, wie es hatte kommen müssen. Hätte Leibniz bereits von der Plattentektonik der Erdoberfläche und den Erscheinungen gewusst, die bei den Bewegungen an ihren Rändern auftreten, wäre er, wie über jede andere wissenschaftliche Erkenntnis, erfreut gewesen.

„Vorstellung und Beschreibung des ganz erschröcklichen Erdbebens, wodurch […] Lissabon […] zugrunde gegangen“, Flugblatt Augsburg 1755 © akg-images/picture-alliance/akg-images

So grauenhafte Auswirkungen das Erdbeben auch hatte: sie waren lediglich Folgen einer ruckhaften Veränderung der Lage der afrikanischen und der eurasischen Platte. Die Erdoberfläche befand sich nun einmal nicht in Ruhe, sondern bewegte sich, was zur Auffaltung von Gebirgen, zu Erdbeben und Vulkanausbrüchen führte. In der philosophischen Sprache der Zeit nannte man dergleichen „zufälliges Übel“ oder „bedingte Zweckwidrigkeit“: ein natürliches Ereignis, das dem Menschen zwar widrig ist, aber nicht auftritt, um dem Menschen zu schaden. Das unterscheidet ein Erdbeben bspw. von einem Flächenbombardement.

Immanuel Kant (1724 bis 1804), der sich intensiv mit den Nachrichten über das Beben befasst und es naturphilosophisch bedacht hatte, brachte das 1756 in trockener Sprache auf den Punkt: „Die Betrachtung solcher schrecklichen Zufälle ist lehrreich. Sie demüthigt den Menschen dadurch, daß sie ihn sehen läßt, er habe kein Recht […], von den Naturgesetzen, die Gott angeordnet hat, lauter bequemliche Folgen zu erwarten“.

Es war vor allem der französische Philosoph Voltaire (1694 bis 1778), der die Sensation des Lissaboner Erdbebens zum philosophischen Thema und ein Naturereignis in den Rang eines Arguments erhob. Gegen die Philosophie von Leibniz und seinen geistigen Nachfahren Christian Wolff hegte Voltaire seit langem eine tiefe Abneigung, so dass die Katastrophe von Lissabon die Gelegenheit bot, gegen all die Beschönigungen und Verharmlosungen dessen, was nun einmal schlecht und widrig war, kräftig zu Felde zu ziehen. Der bereits längst als geistige Institution etablierte Voltaire wählte für den Anfang die poetische Form: Der „Poème sur le désastre de Lisbonne“ erschien 1756 in Genf. Mit einem Streich wischte er die ebenso selbstgefälligen wie billigen Vergeltungsphantasien vom Tisch: Wer hier hämisch das sündhafte Lissabon bestraft sehe, übersehe vorsätzlich, dass in Paris, London und andernorts nicht minder gefrevelt werde. Seine eigentliche Empörung galt dem Leibnizschen Optimismus:

Getäuschte Philosophen, die ihr ruft: ‚Alles ist gut‘: Kommt, seht diese abscheulichen Ruinen, die Trümmer, die Fetzen, die elende Asche, die Frauen, die Kinder: aufgehäuft, begraben unter zerborstenem Marmor, die verstreuten Glieder, seht hunderttausend Unglückliche, die die Erde verschlingt, blutend, zerrissen und zuckend, die begraben unter den Dächern ohne Hilfe enden!

[Voltaire], Poèmes sur le désastre de Lisbonne, et sur la loi naturelle , avec des préfaces, des notes (Gedichte über die Katastrophe von Lissabon und das Gesetz der Natur, mit Vorworten und Anmerkungen), Genf [1756]

Nein, die Welt ist nicht gut, sie strotzt nur so von Elend, Jammer und Gewalt, für die es keine Erklärungen gibt. Voltaire aber war zu intelligent, um nicht zu ahnen, ja zu wissen, dass Mitleid und Empörung über die Folgen einer Naturkatastrophe auf die Dauer kein überzeugendes Argument gegen das Programm der „Theodizee“ liefern konnten. Dass nämlich in ihr alles störungsfrei, für jeden Menschen angenehm und deshalb „gut“ verlaufe, war dort keineswegs vorgesehen.

Ein langer Brief seines jüngeren philosophischen Konkurrenten Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778) führte ihm das vor Augen. Rousseau kritisierte Voltaires Dichtung und verteidigte den Grundgedanken der Theodizee. Nicht Gott oder die Natur sei anzuklagen, eher trügen die Menschen selbst die Schuld an der Katastrophe. Lange sei bekannt, dass die Hauptstadt Portugals von Erdbeben bedroht sei. Aber statt Häuser zu bauen, die weniger einsturzgefährdet seien, habe man aus Gier und Prahlsucht sechs- bis achtstöckige Gebäude errichtet, die bei ihrem Zusammensturz die gewaltige Katastrophe erst herbeigeführt hätten. Hier klingt bereits an, was wie ein Motto den Erziehungsroman „Émile“ (1763) einleiten wird: „Alles ist gut, was aus der Hand des Schöpfers aller Dinge kommt, alles verkommt unter den Händen der Menschen.“

Voltaires nächster Schlag, der Roman „Candide oder der Optimismus“, anonym 1759 publiziert und angeblich aus dem Deutschen übersetzt, griff den Gegner daher anders und von einer anderen Seite an. Anders insofern, als die ganze Angelegenheit von vorn herein ins Lächerliche und Groteske gezogen war: der Held, Candide, ist ein Einfaltspinsel, ihm zur Seite steht Pangloss, d.h. „Allschwätzer“, Karikatur eines Leibnizianers und Philosoph von der traurigen Gestalt. Candides große Liebe, Kunigunde, ist anfangs „von frischer Farbe, unverbraucht, fett und appetitlich“ – kein Wunder, bringt ihre Mutter, Baronin von Thunder-ten-tronckh, doch beeindruckende 350 Pfund auf die Waage. Dass sie am (schwerlich glücklich zu nennenden) Ende all ihre Reize verloren hat, versteht sich, aber immerhin backt die unterdessen auch noch zänkisch gewordene Kunigunde leckere Pasteten.

Die beiden jungen Leute samt Pangloss werden also in die große Welt geschleudert, betrogen, verschleppt, gefoltert; man entkommt dem schon gewissen Tod nur, um desto sicherer in eine noch ausweglosere Lage zu geraten. Selbstverständlich darf der Schauplatz Lissabon nicht fehlen, wo man gerade, um künftige Beben zu verhindern, letzte Hand an die Vorbereitungen zu einer feierlichen Ketzerverbrennung legt. All die Schrecken dämpft das rasante Erzähltempo zu einer Folge von Slapsticks. Natürlich führen sich die Reden, die ein stets mindestens halbtot geschlagener Pangloss zur Verteidigung der gut eingerichteten Welt bei jeder Gelegenheit vorbringt, ad absurdum.

[Voltaire], Candide ou l’optimiste (Candide oder der Optimismus), [Genf] 1759. Das Titelblatt erklärt, es handele sich um die Übersetzung eines von „Dr. Ralph“ stammenden deutschen Textes

Sieht man nun genauer hin, was denn die Absurdität ausmacht, ist es weniger die Ordnung der Welt selbst, nicht Erdbeben, Fluten und Vulkanausbrüche. Genau das ist die andere Seite, von der Voltaire nunmehr seinen Angriff auf Leibniz führt. Die Übel dieser Welt sind in erster Linie die, welche die Menschen selbst anrichten. Wohin es jene armen Tölpel auch verschlägt, es herrschen Krieg, Piraterie, Menschenhandel und Gewalt. Voltaire wusste, wovon er sprach. Es war sein philosophischer Zögling von einst, der Preußenkönig Friedrich II., den man seiner unbestreitbaren Intelligenz und eines ganz außerordentlichen Zynismus wegen als den „Philosophen auf dem Throne“ zu feiern beliebte, der ganz Europa in blutige Kriege gestürzt hatte.

Im Jahre der Veröffentlichung des „Candide“ kostete allein die Schlacht von Kunersdorf vom 12. August rund 22 000 Soldaten das Leben. Der Philosoph von Sanssouci trug schließlich den Beinamen „der Große“. Kriege tobten auch in Nord- und Südamerika, auf den Philippinen – die europäischen Mächte führten, wie man heute meint, einen Weltkrieg.

In der Tat bot der Anblick der Welt um 1755 wenig Anlass, sie als beste aller möglichen zu bezeichnen. Möglicherweise war sie das sogar – dem naiven Candide schießt bei der Betrachtung eines knapp überlebten großen Gemetzels die Frage durch den Kopf: „Wenn das die beste der möglichen Welten ist, wie sind dann erst die andern?“ Die Gewissheiten eines Leibniz waren jedenfalls verloren. Philosophen lernten Bescheidenheit. Rousseau hatte längst resigniert und pries die Einsamkeit, die vor Missgunst, Eitelkeit, Fanatismus und Gewalt der Menschen einigermaßen schützte. Die Natur war wohlgeraten, der Mensch war es nicht.

Aber auch Voltaire, der sich über Rousseaus Lobsprüche auf den ursprünglichen, noch nicht zivilisatorisch verbildeten Menschen geärgert hatte und von dessen ganzer Naturschwärmerei nichts hielt, wusste am Ende seiner ironischen Abrechnung mit der Philosophie Leibniz’ keinen besseren Rat als den, statt sich über die Welt den Kopf zu zerbrechen lieber die fällige Gartenarbeit zu erledigen. Mit ein paar wohlgeratenen Pasteten und selbstgezogenem Gemüse ließ sich die Welt, die einem wie Candide, Kunigunde und Pangloss so übel mitgespielt hatte, dann doch irgendwie ertragen.

Unter den großen Philosophen dieser Zeit fehlt Immanuel Kant. Dass das Beben von Lissabon sogleich das Interesse des Naturforschers gefunden hatte, wurde bereits erwähnt. Die Tatsachen festzustellen und geologische Erklärungen zu geben war das eine. Das philosophische Problem, ob und wie die Einrichtung der Welt mit ihrer moralischen Bewertung in Einklang zu bringen sei, war eine andere, ungleich schwierigere Aufgabe. Bis in die 1790er Jahre hat Kant sie nicht losgelassen, um sie schließlich für unlösbar zu erklären. Der Mensch habe keinerlei Anrecht auf für ihn angenehme Folgen der Einrichtung der Natur, hatte bereits der junge Kant erklärt. Kurz und bündig heißt das: Die Welt ist nicht um des Menschen willen da.

Allerdings kann der Mensch sie erforschen, und er wird erkennen, dass sie, jedenfalls prinzipiell, auch vollständig begreifbar ist – ein perfektes Uhrwerk. Aber, und genau dieses Aber lässt die Versuche scheitern, eine philosophische Theodizee durchzuführen, dieses Uhrwerk hat mit unseren Begriffen des Moralischen nichts zu tun. Die Keplerschen Gesetze oder die gegenseitige Anziehung zweier Massen („Gravitation“), die Tatsache, dass Licht stets den schnellsten Weg nimmt, all dergleichen mag Beweis für die Weisheit eines göttlichen Schöpfers sein, sagt uns aber nichts über dessen Güte. Naturgesetze sind nicht gut, sondern sie gelten.

Menschliche Handlungen wiederum, Akte der Pflichterfüllung, der Barmherzigkeit, der Unaufrichtigkeit, der Rach- und Zerstörungssucht, sind keine naturgesetzlich eintretenden Ereignisse. Der Mensch musste sich damit abfinden, zwar Bewohner einer Welt zu sein, die ihrer natürlichen Ausstattung nach als perfekt angesehen werden konnte, in der es aber eine Reihe von Übeln gab, deren Sinn vollkommen dunkel blieb. Besonders verstörend daran war und ist, dass es der Mensch selbst ist, der die verheerendsten Katastrophen anrichtet.