Barockes Zugpferd als Publikumsmagnet

Emden. Wenn es ein musikalisches Zugpferd in der Advents- und Weihnachtszeit gibt, dann ist es das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Und so bot die Martin-Luther-Kirche am zweiten Advent ein imposantes Bild, als eben dieses Kantatenwerk auf dem Programm stand. Mehr als 550 Besucher waren gekommen, um den „Klassiker“ aus der Barockzeit zu hören. Kreiskantor Marc Waskowiak hatte die Kantaten 4 bis 6 ausgewählt und – auch wohl zur inhaltlichen Vervollständigung – die Nr. 1 davorgesetzt.

Die Kantorei Emden und das Ostfriesische Kammerorchester sangen und spielten unter der Leitung von Kreiskantor Marc Waskowiak. Bilder: Wolfgang Mauersberger

Und das war gut so, denn die erste Kantate des sechsteiligen Werkes enthält die „Hits“ der barocken Komposition. Schon der eingängige Beginn des Oratoriums erzeugt Wonneschauer, und das perfekt vorbereitete Ostfriesische Kammerorchester sorgte dafür, dass das den ganzen Abend so blieb. Das Orchester steht sonst unter der Leitung des Cellisten Christoph Otto Beyer. Jetzt übernahm Marc Waskowiak zwar das Pult, aber Beyer hatte den Klangkörper auf das Konzert vorbereitet – und er hatte gründliche Arbeit geleistet. Zudem saß er selber als Instrumentalist im Orchester.

Für die Choräle war die Kantorei Emden zuständig, und die hatte ihren Part in kürzester Zeit einstudiert. Nun standen annähernd 80 Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, die dem Gesang bemerkenswerte Fülle verliehen. Das ist deutlich mehr, als die Kantorei Dauermitglieder hat. Woher die zusätzlichen Kräfte kamen? Waskowiak hatte interessierte Sängerinnen und Sänger aufgerufen, sich als eine Art Projektchor dem Kernensemble anzuschließen – und das hatte geklappt. So fanden sich auch sehr viele junge Leute auf der Bühne vor dem Altar ein, was der Aufführung natürlich zusätzlichen stimmlichen Reiz verlieh. Dass dann auch noch zwei Mitglieder des Chores als Solisten hervortraten, zeigte die Qualität der Kantorei. Anastasiia Derkunska und Lea Waskowiak unterstützten im Sopran.

Blick ins Orchester. An der Truhenorgel: Matthias Visarius

Die Kantorei brillierte natürlich in den besonders bekannten Chorälen. Das „Jauchzet, frohlocket“ wurde zu einem wirklichen Triumphgesang, der flott und fröhlich daherkam. Und der Vers „Dienet dem Höchsten mit herrlichen Chören“ wurde quasi zum Leitsatz des Konzertes. Aber auch Teil V beginnt mit einem Lobgesang, den der Chor mit schöner Erhebung sang: „Ehre sei Dir, Gott, gesungen“

Die vier Solisten zeigten vor allem in den tieferen Lagen ihre Möglichkeiten. David Pichlmaier hatte sich ebenso wie Dorothea Ohly-Visarius (Alt) stark in die jeweilige Rolle hineingearbeitet. Beide gestalteten sie aus dem Innern des Bedeutungsraumes heraus. Tenor Minseok Kim war stark gestartet, verfügte auch über große Stimmkraft, aber zum Ende hin war er kaum noch zu verstehen und man musste sehr viel häufiger vom Textheft Gebrauch machen, um dem Geschehen zu folgen.


Sopranistin Karola Pavone war kurzfristig für die erkrankte Meike Hartmann eingesprungen. Und wenn Marc Waskowiak eingangs darauf verwiesen hatte, dass „das Werk nur funktioniert, wenn alle an einem Strang ziehen“, dann fügte sich Pavone wunderbar in diesen „Flow“ ein. Die Sopranistin zeigte ihre stimmlichen Stärken etwa in den „verschränkten“ Passagen, wenn zum Beispiel ein Choral (Sopran) und ein Rezitativ (Bass) ineinander gefügt werden, was in den vier aufgeführten Kantaten insgesamt dreimal vorkommt und immer höchst wirkungsvolle Effekte erzielt.

Zwischen Chor, Orchester und Publikum hatten die Solisten ihren Platz. Hier: Dorothea Ohly-Visarius und Minseok Kim

Schön, dass das Oratorium als Kunstform weiterhin in Emden gepflegt wird. Der Bedarf ist offensichtlich vorhanden. Und, wer weiß, vielleicht steht ja im nächsten Jahr der erste Teil des Weihnachtsoratoriums mit den Kantaten 1 bis 3 auf dem Spielplan? Dass die Nr. 1 in einem solchen Fall wiederholt wird, stellt kein Problem dar, denn sie ist ein solches Juwel, dass man sie gar nicht oft genug hören mag.