Streiflichter der Aufklärung

Teil 9: Vom Zauber der Insekten

Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.

Von DR. MICHAEL WEICHENHAN

Die Ausstellung „Die Zeit der Aufklärung in Ostfriesland“, die ab dem 2. Februar wieder in der Johannes a Lasco Bibliothek zu besichtigen ist, präsentiert unter anderem eine Sammlung von Insekten und anderen Gliederfüßern aus den Beständen der Naturforschenden Gesellschaft zu Emden. Das gibt den Anlass, innerhalb der Serie über die Aufklärung einmal auf die Insektenkunde dieser Zeit einen Blick zu werfen.

Der Autor hält hier einen Sammelkasten mit Atlasspinnern (Attacus atlas) und ihren Puppen in Händen. Das Exponat entstammt der Sammlung der Naturforschenden Gesellschaft zu Emden. Derzeit gehören Teile dieser naturkundlichen Sammlung zur Ausstellung in der Johannes a Lasco Bibliothek „Die Zeit der Aufklärung in Ostfriesland“, die von Dr. Klaas-Dieter Voß kuratiert wurde und ab dem 2. Februar wieder zu sehen ist. Bilder: Wolfgang Mauersberger

„Sooft ich über Natur und Gestaltung der kleinsten Tiere nachdenke und sie mit der Natur und der Gestaltung der größten vergleiche und sie sorgfältig gegeneinander abwäge, so stoße ich auf Gründe, jenen kleinsten müsse nicht nur der gleiche Grad an Wertschätzung entgegengebracht werden, sondern seien den größten fast vorzuziehen. In der Tat: unterzieht man die Natur der größten und der kleinsten Tiere einer sorgfältigen Prüfung, wird sich schwerlich abstreiten lassen, dass beide von einem gewissen höchsten Geist gelenkt werden.“

Wer hier seiner Bewunderung für die kleinsten Tiere, gemeint sind die „Insekten“, Ausdruck gibt, ist der niederländische Mediziner und Zoologe Jan Swammerdam (1637 bis 1680), einer der Pioniere der Insektenforschung. Die Insekten hatten es lange Zeit durchaus schwer, mehr als nur gelegentliche, dann aber vor allem missbilligende Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen: nicht nur, weil sie gegenüber den bekannten Tieren, seien es Säugetiere, Vögel, Kriechtiere oder Fische, eben auffällig klein sind.

Der größte Käfer, der Herkuleskäfer, kommt mitsamt Horn auf eine Länge bis zu 17 Zentimetern, der größte Schmetterling, der Atlasspinner, erreicht Flügelspannweiten von bis zu 30 Zentimetern. Beides entspricht in etwa der Größe einer Hausschwalbe. Hinzu kommt, dass sie mit wenigen Ausnahme keineswegs zu den beliebten Haus- und Nutztieren zählen, obwohl sie sich häufig in unserer Umgebung aufhalten, sondern als giftige Quälgeister und gefräßige Schädlinge über einen miserablen Ruf verfügen. Stechmücken, Küchenschaben, Stinkwanzen, Borkenkäfer, Kleidermotten, Buchsbaumzünsler, ja selbst Wespen und Hornissen: alles andere als Sympathieträger, und das meist aus guten, mindestens nachvollziehbaren Gründen.

Menelaos-Falter (Morpho menelaus), dessen Verbreitungsgebiet Süd – und Mittelamerika, sowie eine tropische Savanne in Brasilien ist. Aus der Sammlung der Naturforschenden Gesellschaft

Eine Ausnahme stellt seit alters die Honigbiene dar, das einzige Insekt, das um des Menschen willen entstanden sei, wie der römische Autor Plinius (gest. 79 n. Chr.) meinte. In ihnen erkannte er geradezu vorbildliche Lebewesen, nicht nur, weil sie Honig herstellten. „Sie bauen Zellen und stellen Wachs her, für den Lebensunterhalt ertragen sie Mühen und errichten Werke; sie haben einen Staat, halten in ihren eigenen Angelegenheiten Rat und geben der Menge Anführer, doch was am erstaunlichsten ist: sie haben Sitten“ (Historia naturalis XI, 4).

Um sich mit einer gewissen Sympathie den Insekten zuzuwenden, bedarf es eines anderen Blickes auf sie als den, mit dem wir diese seltsamen Tierchen gewöhnlich betrachten: mit gereizter Aufmerksamkeit, mit Furcht, oft mit Abscheu und Ekel. Man braucht die gelassene Neugierde des Forschers, die den notwendigen Abstand schafft: Der Floh unter Lupe oder Mikroskop beißt nicht. Und ein Wissen darum, dass diese Tiere schließlich auch zur Natur gehören.

In der frühen Neuzeit hieß das, dass Gott auch sie geschaffen hat. So blickte Swammerdam staunend auf seine Insekten – ebenso wie einer der ersten Gelehrten, die sich rund 1500 Jahre nach der Naturgeschichte des Plinius wieder als Forscher mit den Insekten zu befassen begannen, der Bologneser Mediziner Ulisse Aldrovandi (1522 bis 1605). Gott habe, so heißt es im Vorwort zu der monumentalen „Abhandlung der Insekten“, vermittels der Natur bei ihnen noch größere Wunder vollbracht als bei den großen Tieren.

Dieser Vergleich, der stets zu Gunsten der geringgeschätzten Kleintiere ausfiel, war ein festes Motiv der jungen Insektenforschung, der Entomologie. In deren erster umfassenden Darstellung, zwar 1634 reichlich 30 Jahre später als Aldrovandis Werk erschienen, aber bereits 1590 als Manuskript abgeschlossen, dem „Insectorum sive minimorum animalium theatrum“ (Schauplatz der Insekten bzw. der sehr kleinen Tiere), erklärte der englische Mediziner Thomas Muffet (1553 bis 1604): „Wenn die Schöpfung der Insekten eines solchen göttlichen Meisters würdig war, könnte es dann die Geistesgaben kleiner Menschlein entwürdigen, sie aufmerksam zu betrachten? […] Weicht, ihr aufgeblasenen Lobredner der großen Tiere – auch ich erkenne Gott aus der gewaltigen Masse, aber noch mehr bei der Beschäftigung mit den kleinen Tieren, denn hier ist mehr Klugheit, Schläue, Kunstfertigkeit, Begabung und Anzeichen einer gewissen Göttlichkeit.“

Gott aus den Werken der Natur zu erkennen ist kein typisch neuzeitlicher, geschweige denn aufklärerischer Gedanke, er ist nicht einmal genuin christlich. Im Abendland las man unter anderem „De natura deorum“ (Von der Natur der Götter) von Cicero, der derartige Argumente vorgetragen hatte. In Insekten das Walten des Göttlichen zu erkennen, kannte man aus Versen des Dichters Vergil, damals jedem Gebildeten aus der Schule geläufig: „Es heißt, es seien die Bienen teilhaftig des göttlichen Geistes und benetzt vom himmlischen Äther“ (Georgica IV, 220f.).

In der Zeit der Aufklärung aber wurde aus den Gedanken ein Programm: die „Physico-Theologie“ entstand, d.h. der Versuch, Erkenntnis Gottes auf dem Wege des Studiums der Natur zu erlangen. Beileibe nicht nur die Insekten, sondern auch Gestirne, Gewässer, Steine, Gewitter, Pflanzen und Vögel wurden Gegenstand von Büchern, in denen die erstaunliche Ordnung des scheinbar Zufälligen aufgezeigt und auf diese Weise die Weisheit des göttlichen Schöpfers enthüllt wurde. In einer Zeit, als zwischen den Linsenschleifern ein erbitterter Wettstreit um die stärksten Vergrößerungen ausgefochten und mit Fernrohr und Vergrößerungsglas gleichsam neue Welten erobert wurden, faszinierte neben der unermesslichen Größe des Alls gerade das Kleine.

Optische Geräte wie Lupe und Mikroskop leuchteten gleichsam am unteren Ende in Bereiche, die sich dem unbewaffneten Auge entzogen. Wie das astronomische Fernrohr immer mehr von der Größe des Weltalls erahnen ließ, so enthüllte auch das Mikroskop eine neue Dimension der Natur: die Komplexität dessen, was mit bloßem Auge auf Grund seiner geringen Ausdehnung kaum noch wahrgenommen werden kann. Robert Hooke (1635 bis 1702), ein außerordentlich vielseitiger Naturforscher, der freilich das Pech hatte, Newton zum Zeitgenossen zu haben, der seinen Ruhm nach Kräften verdunkelte, hat in seiner 1665 erschienenen „Micrographia“ die Leistungsfähigkeit optischer Linsen unter Beweis gestellt. Er beeindruckte die Leser des Buches nicht nur mit spektakulären Darstellungen von Kristallen und Pflanzenzellen, sondern auch mit Ansichten von Insekten. Berühmt ist unter ihnen vor allem der Blick in das „Gesicht“ einer Drohnenfliege geworden. Hooke war fasziniert von den aus aberhunderten Teilen aufgebauten Komplexaugen, den sogenannten Ommatidien.

Das Gesicht einer Drohnenfliege (Eristalis tenax) mit ihren riesigen Komplexaugen; Robert Hooke, Micrographia, or some physiological descriptions of minute bodies, London 1664, Tafel 24, nach Seite 174

Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die so kleinen Insekten also als nicht minder kompliziert aufgebaut als die großen Lebewesen. Zuweilen verglich man sie mit Taschenuhren. Gerade an solchen Miniaturstücken erweise sich die Meisterschaft des Uhrmachers. Eine stattliche Kirchturmuhr zu bauen ist beachtlich, wunderbar hingegen die Konstruktion einer winzigen Uhr, sofern sie (nach damaligen Maßstäben) präzise geht.

Die Insekten taten es. Deren „Uhrmacher“ war selbstverständlich der göttliche Schöpfer. Einer der großen Insektenforscher des 18. Jahrhunderts, vielleicht sogar der bedeutendste, René-Antoine Ferchault de Réaumur (1683 bis 1757) erwähnte im ersten seiner insgesamt sechs Bände umfassenden „Mémoires pour servir à l’histoire des insectes“ (Aufzeichnungen für eine Darstellung der Insekten) die Auffassung, mit der Vermehrung der Beobachtungen an Insekten vermehrten sich die Beweise für die Existenz Gottes.

Der schier unermessliche Formen- und Artenreichtum, den diese Tierklasse aufzuweisen hat ‒ gegenwärtig sind weit über eine Million Arten erfasst, und ein Ende der Identifikation neuer Arten ist nicht in Sicht ‒ erweckte zunächst einmal Neugier, Staunen und Ehrfurcht; er bot Generationen von Schmetterlingssammlern und Käferjägern in der heimischen Umgebung und auf Reisen in entfernte Weltgegenden Gelegenheit, interessante und prächtige Exemplare für die eigene Sammlung ausfindig zu machen und so das Wissen um die Vielfalt der Naturformen zu erweitern. Er eröffnete Gelehrten, die die Funde eindeutig zu bestimmen und zu klassifizieren hatten, nahezu unbegrenzte Forschungsfelder. Vorerst, im Grunde bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, begnügte man sich mit ausführlichen Beschreibungen und präzisen bildlichen Darstellungen.

Friedrich Christian Lesser, Insecto-Theologia, Frankfurt/M. und Leipzig 1740

Manche der physiko-theologischen Einlassungen mögen heutigen Zeitgenossen etwas lächerlich vorkommen. Der Blick des Historikers, der sich die Geringschätzung des Vergangenen nicht leisten mag, erfasst an der Gedankenwelt, der wir Werke wie die „Insecto-Theologia“ des protestantischen Pfarrers und Mitglieds der „Academia Leopoldina naturae curiosorum“ (Akademie der Naturforscher Leopoldina) Friedrich Christian Lesser (1692 bis 1754) verdanken, hingegen interessante, zukunftsweisende und aufklärerische Züge. Da ist zum einen die für die Erforschung der Natur unverzichtbare Verschiebung des Menschen aus dem Zentrum an den Rand, von dem aus er die Dinge beobachtet. Bezogen auf den Menschen des Alltags sind in der Tat viele der Insekten, die er überhaupt bemerkt, lästig oder gar gefährlich. Sie bedrohen die Ernte, zerstören die Kleider, plagen mit schmerzhaften Bissen, von denen manche sogar zu schweren Krankheiten führen können. Die Entomologen wussten und machten klar, dass diese Perspektive mindestens verzerrt war. Insekten leben in ihren je eigenen Welten nach ihren Regeln, und sie tun das mit Erfolg. Das hatte der Mensch staunend und mit einer gewissen Demut zur Kenntnis zu nehmen. Wobei er sich an den Gedanken zu gewöhnen hatte, dass die Welt nicht für ihn geschaffen war.

Zum zweiten dokumentiert das Interesse an den Insekten eine neue Wertschätzung des Irdischen und Vergänglichen. Des Göttlichen in den Bewegungen der Gestirne ansichtig zu werden, das war ein alter, ja ein uralter Gedanke, denn sie führen vor Augen, was die Menschen oft schmerzlich vermissen: Ordnung und Dauer. Die kurzlebigen Insekten hingegen, die als geschlechtsreife Wesen nur einige Wochen, ja zuweilen nur Tage leben, standen am andern, am unteren Ende. Die aus Schlamm, Moder und finster schmutzigen Ecken sich herauswindenden und krabbelnden Tierchen als Meisterwerke der göttlichen Kunst aufzufassen war ein gewaltiger Schritt. Nicht mehr nur das (scheinbar) Unveränderliche, sondern die perfekte Konstruktion des Vergänglichen erregte das Staunen. Und zugleich fand gerade an den Kleinstlebewesen ein Gedanke eine Stütze, der für die „Theodizee“ von Leibniz von entscheidender Bedeutung war: dass alles, selbst ein Wassertröpfchen, mit Leben erfüllt ist. Zur besten aller Welten gehört, dass sie ein Maximum an Lebewesen existieren lässt.

Was die Forscher über die atemberaubende Vielfalt hinaus an den Insekten faszinierte, waren das von den Wirbeltieren so deutlich unterschiedene Aussehen (das oft geradezu monströs wirkt), ihr von Mensch und Haustieren abweichender Aufbau ‒ sie haben, anders als diese, ja kein Skelett, sondern eine Art Panzer, der ihnen äußerlich Halt gibt ‒ und ihre erstaunliche Entwicklung.

Eine der auffälligsten Erscheinungen bei den Insekten ist die z.B. bei Säugetieren nicht anzutreffende „Metamorphose“, d.h. die Gestaltverwandlung, die sich besonders spektakulär bei den Schmetterlingen vollzieht. Aus winzigen Eiern entsteht zunächst eine Raupe, die optisch so wenig mit dem späteren Schmetterling gemeinsam hat, dass man in ihr eine Verkleidung, eine „Maske“, lateinisch larva, ausmachte, woraus dann der Ausdruck „Larve“ entstanden ist. Da die unermüdlich fressenden Raupen aus allen Nähten platzen, müssen sie sich von Zeit zu Zeit häuten. Nach der letzten Häutung, meist ist es die vierte, verpuppt sich die Raupe und fällt gewissermaßen in einen Tiefschlaf, bei dem sich die Wandlung des wurmähnlichen Körpers in die an Vögel erinnernde Gestalt des Schmetterlings vollzieht, meist ein Wesen von verschwenderischer Prachtentfaltung.

Bekannt ist besonders die Forscherin und Malerin Sibylla Merian (1647 bis 1717) für ihre Darstellungen der farbenprächtigen Schmetterlinge geworden, wobei sie ihr Augenmerk seit ihrer Kindheit auf die Verwandlung aus Raupe und Puppe richtete. Sie dokumentierte nicht nur die ‒ damals noch überall und sehr zahlreichen anzutreffenden ‒ Schmetterlinge in der Umgebung von Frankfurt am Main, Nürnberg und Amsterdam. Getrieben von der Neugier nach exotischer Fauna und Flora reiste sie, begleitet von einer ihrer Töchter, 1699 in die niederländische Kolonie Surinam, wo sie während zwei Jahren im tropischen Regenwald vor allem Insekten in ihren Entwicklungsstadien, kombiniert mit einheimischen Pflanzen, zeichnete.

Merian vermittelte einen Eindruck vom Leben der Insekten, indem sie nicht allein deren Entwicklung, sondern auch die von den Raupen bevorzugten Futterpflanzen darstellte. Nachdem sie auf Grund einer Malariaerkrankung zur Rückkehr nach Amsterdam gezwungen war, arbeitete sie am Manuskript eines Buches, das man getrost zu den schönsten Werken der Buchgeschichte zählen kann, der „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ (Verwandlung der Insekten Surinams). Es erschien 1705 in Amsterdam im Großfolioformat von 50 x 35 cm, das Stück wurde zum stolzen Preis von 45 Gulden verkauft. Die Stiche fertigte nach ihren Vorlagen und unter ihren wachsamen Augen zum größten Teil der Kupferstecher Pieter Sluyter an.

Sibylla Merian, Metamorphosis insectorum Surinamensium, Tafel 53. Dargestellt ist Morpho menelaus; Raupe und Puppe gehören allerdings zu einer anderen (nicht identifizierten) Art. Bei der Pflanze handelt es sich um Drymonia serrulata

Abbildungen wie diese waren in der Zeit der Aufklärung noch das einzige Mittel, genaue visuelle Vorstellungen von Schmetterlingen zu vermitteln. Sammlungen mit genadelten Exemplaren, wie sie die Ausstellung zeigt, waren damals nicht realisierbar. Denn kleine gefräßige Insekten machten der zerbrechlichen Pracht schnell ein Ende. Erst die Erfindung des Naphthalin am Anfang des 19. Jahrhunderts, das ungebetenen Gästen den Garaus machte, ermöglichte die Konservierung von Käfern und Schmetterlingen.