Streiflichter der Aufklärung
Teil 10: Von der Dialektik der Aufklärung
Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek in Emden, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.
Von DR. MICHAEL WEICHENHAN
Im Jahre 2024 erinnerte man sich nicht nur an den 300. Geburtstag von Immanuel Kant. Vor 100 Jahren erschien einer der bedeutendsten Romane mindestens deutscher Sprache, wenn nicht der Weltliteratur überhaupt: „Der Zauberberg“ von Thomas Mann (1875 bis 1955). Mit ihm die Reihe der Streifzüge durch die Aufklärung zu beenden, verdankt sich nicht nur der persönlichen Vorliebe des Autors für den Schriftsteller Thomas Mann, auch wenn sie bei der Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten natürlich eine Rolle gespielt hat.
Ohne Zweifel kann eine Serie von Spaziergängen durch einige Gegenden der Aufklärung nicht enden, ohne einen Blick über deren historischen Rahmen hinaus zu werfen. Denn Aufklärung ist nicht nur eine Epoche, die irgendwann im ausgehenden 18. Jahrhundert endete und von anderen Formationen des Denkens abgelöst wurde. Sie ist ein Bündel von Einstellungen zu Religion, zu Traditionen und zur Geschichte, zum Menschen und der Welt, das sich während des 17. Jahrhunderts herausbildete, aber nicht wieder verschwand.
Diese neue Haltung, die nach Möglichkeit alles dem strengen Urteil der menschlichen Vernunft unterwarf, Überkommenes kritisierte und häufig als Ausdruck ungeprüfter Vorurteile verwarf, schließlich die Welt nach den Maßstäben von Verstand und Vernunft aufzubauen sich vorgenommen hatte, versiegte nicht. Sie war kein Projekt, das umzusetzen die Kräfte erschöpft hatte und das wie ein gewaltiges Bauwerk aus der Vergangenheit noch zu bestaunen ist. Sie wirkte weiter, und zwar selbst dort, wo man sie kritisierte, ja schroff ablehnte.
Kein Theologe – welcher Konfession auch immer – konnte an der aufklärerischen Religions- und Christentumskritik einfach vorübergehen, kein Philosoph Kant übersehen, selbst wenn er dessen Philosophie für unzureichend oder sogar für grundfalsch hielt. Die Welt, also die der Wissenschaften, der Philosophie und der Theologie, überhaupt der Bildung und des öffentlichen Lebens, war um 1800 eine vollkommen andere als 150 Jahre zuvor, und es gab kein Zurück mehr.
Auch die, denen all das aufklärerische Vernünfteln über alles und jedes als zerstörerische Zweifelsucht ein Dorn im Auge war, die wenig Vertrauen in die Kraft des eigenen Verstandes- und Vernunftgebrauches zur Lenkung der je eigenen und sogar der gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten hatten, auch sie schauten einer definitiv vergangenen Zeit nach, manchmal voll Trauer, manchmal erfüllt von Zorn und Ekel darüber, was an die Stelle dessen getreten war, was nun unwiederbringlich verloren war.
Thomas Mann, der den „Zauberberg“ sechs Jahre nach dem Großen Krieg vollendete, den man später den Ersten Weltkrieg nennen sollte, hatte in Gestalt dieser „Schande“ des zivilisierten Europa gleichsam im Zeitraffer einen vergleichbaren Bruch erlebt. Die Welt, in die er die Leser des Romans entführte, war vergangen: eine Welt von Gestern. Deshalb sei von ihr, wie bereits im allerersten Satz eingeschärft wird, „unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen“. Es war die Welt in den letzten sieben Jahren vor Beginn jenes grauenvollen Krieges, der Ausklang einer Epoche, die man im Französischen als „schön“ erinnert: „La belle époque“. Obwohl die großen Nationen bis an die Zähne bewaffnet einander belauerten, war es eine wahrhaft europäische Zeit.
Man reiste, weitgehend ungehindert, vom Atlantik bis zum Kaukasus, die Söhne des wohlhabenden Bürgertums studierten in Paris, Cambridge, Berlin, Göttingen und Zürich. Mann hat diese gesamteuropäische, gehobene Gesellschaft freilich nicht in einer Universität angesiedelt, sondern in einer Schweizer Heilanstalt für an Tuberkulose Erkrankte. Dort oben, in den Bergen Graubündens, treffen Kaufleute, Militärs, Lehrerinnen, Gelehrte, betuchte Damen, Millionäre, Gebildete und Ungebildete, Junge und Ältere, Begüterte und weniger Wohlhabende beiderlei Geschlechts aus verschiedenen Ländern aufeinander, vereint nur durch ein meist tödlich endendes Leiden, dessen Verlauf die medizinische Anstalt lindert, zuweilen sogar zum Stillstand bringt. Das Sanatorium als Abbild der bürgerlichen Gesellschaft.
Also einer Gesellschaft, die in gewisser Hinsicht den Vorstellungen des Aufklärungszeitalters entsprach. Es gab hier oben keine Staaten, keine Fürsten und keine Untertanen, nur freie Bürger. Gerade die Krankheit machte die Menschen in einem Maße zu Freien, das in einem normalen Berufsleben gleich welcher Art unvorstellbar war. Nichts nötigte, einer anderen Tätigkeit nachzugehen als der, seine Speisen einzunehmen, Fieber zu messen, sich den Liegekuren und gelegentlichen Untersuchungen zu unterziehen. Für den Lebensunterhalt hatten zu sorgen, die im „Flachland“ ihren Berufstätigkeiten nachgingen, aber die waren so weit entrückt, dass sie vollkommen unsichtbar geworden und gar nicht mehr recht vorhanden waren.
Auch das Sanatorium selbst und sein medizinischer Leiter waren typische Sprösslinge des aufklärerischen Denkens. Hier wurde dem wissenschaftlichen Fortschritt gehuldigt, und der ärztliche Direktor, ein geschickter Chirurg und souveräner Diagnostiker, vertrat hinsichtlich des Menschen einen robusten Materialismus, wie er von radikalen Denkern des 18. Jahrhunderts entwickelt worden war. Von einer Seele und anderen erbaulichen Feinheiten wollte der gestandene Mediziner nichts wissen. Für ihn war der Mensch ein stoffwechselndes Konglomerat aus Wasser, Eiweiß, Fett, Calciumphosphat für die Knochen und mancherlei anderen Bestandteilen, das sich nach dem Ableben nach und nach wieder auflöst. Das war erstaunlich genug und mehr an philosophischem Glauben brauchte es nicht, um ein guter Arzt zu sein.
Ein spätes Erzeugnis der Aufklärung und des technisch-zivilisatorischen Fortschritts war auch die Sanatoriumsgesellschaft. Man hatte das raue Hochgebirge durch moderne Verkehrswege erschlossen und eine zuvor ausschließlich von Almbauern bewohnte Gegend mit komfortablen Einrichtungen ausgestattet, die alle Annehmlichkeiten des Lebens boten: elektrischem Strom, Dampfheizung, fließendem Wasser. Und doch war diese Gemeinschaft nicht gerade mittelloser Patienten eine kranke Gesellschaft, sowohl buchstäblich als auch in dem weiteren Sinne, der die Heilanstalt zum Abbild der Zustände der Vorkriegszeit macht. Sie trug, was im Verlauf des Romans immer deutlicher zu Tage tritt, den zerstörerischen Keim der Lähmung, der Todessehnsucht, ja des Vernichtungswillens in sich.
Es ist ja nicht so, dass in die lichte Welt der medizinischen Kunst düsterer Aberglaube, das Verlangen, die Geister von Verstobenen herbeizurufen, eindringen würde, nein, spukhafte Erscheinungen, überhandnehmende Verschrobenheiten, Nationen- und Rassedünkel, Aggressivität, sie entstehen aus und in dieser Gemeinschaft der Leidenden selbst. Aus harmlosen Unterschieden wird Abneigung, aus Meinungsverschiedenheiten bitterer Streit, Streitgespräche enden im Duell.
Man kann dies mit einer Formulierung des Philosophen Theodor Adorno (1903 bis 1969) die „Dialektik der Aufklärung“ nennen. Das meint, ohne hier näher auf das gleichnamige Buch einzugehen, das Adorno zusammen mit Max Horkheimer (1895 bis 1973) zuerst 1947 veröffentlichte, die Zweideutigkeit, die die Aufklärung nicht hat abstreifen können. In einem bestimmten Sinne war sie sogar durch sie in die Welt gekommen, eben weil allererst der aufgeklärte Mensch weiß, dass jede noch so strahlende Leistung einen Schatten wirft, jeder Fortschritt einen Preis hat, es zu jedem Argument ein Gegenargument gibt.
In den Streitgesprächen zweier Figuren hat Thomas Mann dieses Setzen und Entgegensetzen, Behaupten und Widersprechen gestaltet, die Zweideutigkeit also, die für diese neue Zeit charakteristisch ist. Da ist zum einen der unbeirrbare Anwalt der Aufklärung Ludovico Settembrini, ein hoch gebildeter Schriftsteller, der nicht müde wird, die Ideale des Fortschritts, der geistigen Freiheit, des Kampfes gegen die Herrschaft von Kirche und Aberglauben, der Schönheit und der körperlichen und intellektuellen Gesundheit witzig und wortgewandt vorzutragen.
Dem Italiener steht Leo Naphta gegenüber, ein aus Galizien stammender Sohn eines „Schochet“ (jiddisch: Schlachter), der nach dem Tod seiner Eltern von Jesuiten erzogen worden und nach der Taufe ihrem Orden beigetreten war. Naphta, nicht minder gebildet und brillant, verabscheut all das, was Settembrini preist, als bloß „schäbige Lebensbürgerlichkeit“ und schwächliches Wortgeklingel. Wo jener von allmählicher Verbesserung und stetem Fortschritt der Menschheit nach dem Vorbild der modernen westeuropäischen Staaten träumt, tritt Naphta für die wahre Befreiung der Menschheit durch gewaltsame Revolutionen ein, an deren Ende eine klerikal-kommunistische Diktatur, ein sozialistischer Gottesstaat, stehen werde.
Feiert Settembrini eine idealisierte Antike und die Einheit von Schönheit, Geist und Sittlichkeit, so gelten Naphta mittelalterliche Darstellungen des zerschundenen Körper des gekreuzigten Christus als Höhepunkt der Kunst, entsprechend ein entstellter und kranker Leib als Voraussetzung für den Durchbruch des Menschen zu wahrer Geistigkeit. Er weiß, dass den Menschen überwiegend an Individualität und Freiheit, an jenem von Kant gepriesenen Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, wenig oder gar nichts liegt. In Wahrheit sehnten sich die Menschen nach Unterwerfung, nach Gehorsam, nach Auslöschung der Person im bergenden Kollektiv. Er weiß es nicht nur, er bejaht es.
Naphta ist nicht weniger als sein Kontrahent Settembrini ein Kind der Aufklärung, selbst wenn man der Auffassung ist, es handele sich um ein missratenes Kind. Nichtsdestoweniger bilden für beide die Französische Revolution und deren geistige Vorbereitung in Gestalt der aufklärerischen Philosophie vornehmlich Frankreichs den Ausgangspunkt ihrer Gedanken. Dem einen gelten sie als Anfang einer menschheitlichen Befreiungsgeschichte, dem anderen liefern sie den Beweis, dass allein Terror und Gewalt die Welt verändern.
Auch vom traditionellen Glauben an einen weisen und gütigen Schöpfer der Welt haben sich beide verabschiedet: Settembrini hält ohnehin jede Form von Gottesglauben für einen schändlichen Irrtum. Doch auch der Jesuitenzögling, der als Kind hatte erleben müssen, dass christlicher Mob den Vater an die Tür seines Hauses genagelt und dieses in Brand gesteckt hatte, ist kein frommer Mann, keiner, von dessen Lippen hätte kommen können: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, sein Name sei gepriesen“.
Den Halt, jene letzte Sicherung, den die Religion seiner jüdischen Väter und die christliche Religion einst gegeben hatten, hat er verloren wie sein Gegner. Nur ist das für ihn kein Grund zur Annahme, die Menschheit schwinge sich zu wahrer Humanität empor. Vielmehr teilt er die Überzeugung des Großinquisitors in Dostojewskijs „Die Brüder Karamasow“: „Hast Du vergessen, dass Ruhe und sogar der Tod dem Menschen lieber sind als die freie Wahl im Wissen von Gut und Böse? Nichts ist für den Menschen so verführerisch wie die Freiheit seines Gewissens, aber es gibt auch nichts, was ihn mehr peinigt.“
Weil der aufgeklärte Mensch sein Schicksal selbst gestaltet, ist er frei – für den Typus des optimistischen Aufklärers wie Settembrini Grund zur Genugtuung, für seinen Widersacher, den um die menschliche Unzulänglichkeit wissenden Naphta, der Anlass, dem von Traditionen, Sitten und jeder metaphysischen Sicherung befreiten Menschen einen Ersatz zu schaffen in Gestalt des diktatorischen Staates.
Thomas Mann gibt in diesen schier endlosen Streitgesprächen zwischen den beiden Gelehrten nicht nur Gedanken wieder, wie sie am Anfang des 20. Jahrhunderts von Liberalen, militant Konservativen und Revolutionären geäußert wurden; die heutige Leser wohl arg befremdende Verbindung zwischen revolutionären und reaktionären Vorstellungen reichten tatsächlich bis an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Auf dem „Zauberberg“, dem Ort, an dem die gewöhnlichen Zeitbegriffe nicht mehr galten, sondern alles wie in Hölle oder Paradies in konturloser Gleichzeitigkeit verschwamm, wirbelten Ideen des 18. und 19. Jahrhunderts durcheinander wie in einem Schneegestöber.
Gibt es einen Ausweg aus dem Gestöber, aus jenem Durcheinander von Schwarz und Weiß, Argument und Gegenargument, aus jener Zweideutigkeit, in die der Mensch geraten ist wie die Hauptfigur des Romans Hans Castorp in einen Schneesturm, in dem ihm vor lauter Helligkeit des weißen Schnees das Sehen vergeht und er ins Nichts zu schauen meint? Noch nicht ein Vierteljahrhundert nach dem Erscheinen des „Zauberberg“, nachdem die von Menschen einer kulturstolzen Nation angerichteten Gräuel dank raffinierter und hoch effizienter, von exzellenten Wissenschaftlern entwickelter Vernichtungsmethoden und Technologien alles in den Schatten gestellt hatten, was man sich bis dahin überhaupt nur hatte vorstellen können, sah es nicht danach aus. „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ So lauten die beiden ersten Sätze der „Dialektik der Aufklärung“.
Thomas Mann ließ im Jahre 1924 Hans Castorp zu einer Einsicht gelangen, die jene Zweideutigkeit zwar nicht auflöst, aber erträglich und lebbar macht: „Der Mensch ist Herr der Gegensätze, sie sind durch ihn, und also ist er vornehmer als sie.“ Und er fährt fort, indem er die Widersprüche, in die ihn seine Lehrer Naphta und Settembrini fortlaufend verwickeln, diese Kämpfer auf dem Schlachtfeld um die Aufklärung, hinter sich lässt: „Vornehmer als der Tod, zu vornehm für diesen, ‒ das ist die Freiheit seines Kopfes. Vornehmer als das Leben, zu vornehm für dieses, ‒ das ist die Frömmigkeit in seinem Herzen. […] Die Liebe steht dem Tod entgegen, nur sie, nicht die Vernunft, ist stärker als er. Nur sie, nicht die Vernunft, gibt gütige Gedanken.“
Damit freilich enden weder die Aufklärung, noch auch das Nachdenken über sie. Wohl aber unsere Streifzüge.
ENDE DER SERIE