Kopfkino mittels humaner Anteilnahme

Freepsum. Einen raffinierten theatralen Zugang zu einem ganz schwarzen Kapitel deutscher Geschichte hat die Freie Bühne Wendland gefunden, die wieder einmal zu Gast im Kultur-Gulfhof Freepsum war. In dem Stück „Hermine Katz und das ungeheure Wissen der Dachböden“ ging es um Nationalsozialismus, Konzentrationslager, Vertreibung, Tötung. Was Schauspielerin Kerstin Wittstamm als Hermine Katz auf die Bühne zauberte, war reine Kunst. Sie verwandelte sich während der Vorstellung in eine Vielzahl von Personen, gab jeder charakteristische Züge und wiedererkennbare Körperlichkeit. Sie spielte mit großer Phantasie, was sich eigentlich nur erzählen lässt – und zog dabei die Zuschauer im ausverkauften Kuhstall des Gulfhofes in ihren Bann.


Eigentlich, so erklärte Regisseur Caspar Harlan, habe man das Stück für Schulklassen entwickelt. Um es auch vor Erwachsenen zu spielen, sollte es neu inszeniert werden. Doch dann habe man sich dagegen entschieden. Und nun bekam das Publikum in einer Dreiviertelstunde eine Geschichtsstunde geboten, die sich wohl jeder selber als Schüler gewünscht hätte, um die ungeheuerlichen Vorkommnisse jener Zeit zu begreifen.

Spielte auch mitten im Publikum: Kerstin Wittstamm im ehemaligen Kuhstall des Gulfhofes. Bilder: Wolfgang Mauersberger

Dabei waren Realität und Umsetzung auf der Bühne derart verwoben, dass man sich schließlich fragte, ob dem Stück „Hermine Katz und das ungeheure Wissen der Dachböden“ wirkliche oder erfundene Recherchen zugrunde lagen. Anhand der gezeigten realen Dokumente wurde dann aber klar, dass alles, was auf der Bühne dargestellt wurde, sich wohl so abgespielt hatte.

Hat sie den Judenstern getragen oder nicht? Szene aus dem Stück „Hermine Katz und das ungeheure Wissen der Dachböden“

Bühnenfigur Hermine ist eine Trödlerin. Sie macht einen Dachbodenfund. Zufällig. Unter einer kleinen Schublade steckt das Foto eines Kindes, aufgenommen am Tag seiner Einschulung. Auf der Rückseite findet sich der Name: Liesel Mansfeld, 1926. In Archiven und durch Befragung kristallisiert sich langsam die Geschichte der großen Familie aus Lüchow heraus und wird von Kerstin Wittstamm mit allem schauspielerischen Geschick umgesetzt. Jedes Fakt wird dabei zur Szene oder zum Kommentar. Doch trotz Schilderung der körperlichen und seelischen Grausamkeiten der Zeit, bleibt da doch eine Form humaner Nüchternheit, einer anteilnehmenden Distanz, die das Kino im Kopf jeden Besuchers in Bewegung setzt.


Die Familie Mansfeld ist im Ort fest verankert: Freundschaften, Mitgliederschaften im Schützen- und Turnverein, gemeinsamer Alltag. Doch die Familie ist jüdischer Herkunft – und damit beginnt das Elend. Dabei sind es gerade die kleinen Ekelhaftigkeiten, die die Geschichte so unter die Haut gehen lässt. Die Familie wird nämlich systematisch tyrannisiert. Die Mansfelds bekommen Arbeitsverbot und unterliegen einem Hausarrest sowie genereller Missachtung. Aber selbst der Versuch auszuwandern, um sich den Zuständen zu entziehen, scheitert. Denn der geplante Hausverkauf ist zwar möglich. Doch das Geld kommt nicht der Familie, sondern dem System zugute.

Kerstin Wittstamm nach der Aufführung im Gespräch mit Gästen

Wittstamm verfolgt den Gang der Familie in den Tod, lässt den Weg dahin vorstellbar werden. Etwa die Verschleppung in verschlossenen Viehwagons – ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne die Möglichkeit, sich auch nur hinzusetzen, ohne sanitäre Anlagen.


Den Schrecken, die die wissend gewordene Hermine in den Köpfen verbreitet, begegnete das Team des Kultur-Gulfhofes mit Musik. Akkordeonistin Dörte Lehmann spielte Kletzmer und anderes aus ihrem umfangreichen Repertoire. Teilweise unterstützt wurde sie von Geerd Ysker (Cajon).

Volles Haus bei der Theatervorstellung mit anschließendem Konzert