„Das Leben war zum Jammer geworden“

Emden. In der Nacht vom 3. auf den 4. Februar 1825 erlebt die gesamte Küste zwischen den Niederlanden und Dänemark eine verheerende Sturmflut. Sie ist deshalb so markant im geschichtlichen Gedächtnis geblieben, weil sie nie erreichte Wasserstände mit sich brachte. Das kann man noch heute im Rathausbogen ablesen, wo zu sehen ist, wie hoch das Wasser stieg, das die Stadt großflächig überflutete.

Das Wasser kommt – eine phantasievolle Darstellung der Überschwemmung einer Hallig

Aufgrund eines offenen Hafens, weniger Deiche, die zudem brachen, und der Tatsache, dass zwar die Altstadt auf einer hohen Wurt angelegt wurde, nicht aber die Erweiterungsflächen, war es in der Hafenstadt keine Seltenheit, dass Straßen unter Wasser standen und Häuser voll liefen. Doch die Flut von 1825 sprengte alle Vorstellungen.

Grund für die Sturmflut war ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren: Ein Tiefdruckgebiet, das auf ein Azorenhoch folgte, ein Richtungswechsel des Windes von West oder Südwest nach Nordwest mit hohen Windgeschwindigkeiten und zudem noch eine Springflut. Das geht aus einer Re-Analyse des Helmholtz Zentrum Hercon in Geesthacht hervor, die 2023 die Vorkommnisse von 1825 zurückgerechnet, zusammengefasst und bewertet hat.

Sie stellten anhand der Bewertung der wenigen Daten, die aus jener Zeit vorliegen, fest, dass 1824 auf einen sehr trockenen Sommer ab Oktober nahezu ununterbrochen Regen fiel. Am 15. November folgte dann eine Sturmflut, die sehr hoch auflief und zu ersten Schäden an den Deichen führte. Der Winter entfiel in diesem Jahr. Gleichwohl, so schreibt ein Chronist, wähnten sich die Menschen hinter den Deichen in trügerischer Sicherheit, denn diese hatten seit fast 100 Jahren gehalten.

Die Sturmflut überrollt einen Deich und bedroht die Menschen, die auf den Dächern ihrer Häuser Schutz suchen

Doch in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar kam ein Sturm aus Nordwest, der eine hohe Flut erzeugte. Dann allerdings beruhigte sich das Wetter, blieb aber unbeständig – der Regen hörte zunächst auf, teilweise kam die Sonne heraus, dann folgten Hagelschauer und ab und an wieder einzelne Güsse.

Am 3. Februar regnet es wieder stark, nachmittags fallen dicke Hagelkörner, starker Sturm kommt auf. Das Barometer fällt. Die Mittagsflut ist zwar nur mäßig hoch, läuft aber bei Ebbe nicht vollständig ab. Schon kommt die Flut im Laufe der Gezeiten zurück. Und am Himmel steht ein Vollmond. Schon Stunden, bevor die Flut den höchsten Stand erreicht, steht das Wasser auf Deichhöhe. Der Wellengang ist zwar hoch, aber trifft stoßweise auf die Küste, das Wasser ist extrem schaumig und scheint zu kochen, registrieren Beobachter.

In Emden soll die Flut am 4. Februar um 6 Uhr morgens auflaufen. Um 7 Uhr steigt das Wasser über die Ufer der beiden Hafenbecken – Rats- und Falderndelft – und beginnt, sich in der Stadt zu verteilen. Diese ist im Süden, Südwesten und Südosten durch kleine Deiche geschützt. Der Hafen indes ist offen. Die vier Siele – Gasthaussiel, Neupfortssiel, Stadtsiel und Rotes Siel – liegen tief innerhalb der Stadt. Am Hof von Holland und bei der Neuen Kirche gibt es eine Vorrichtung zum Einziehen von Schutzbrettern. Das ist der ganze Schutz, den die Stadt aufzubieten hat.

Über das Geländer der Rathausbrücke hätte man in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar 1825 hinwegschwimmen können

Um 8 Uhr registrieren die Emder einen rasanten Anstieg des Wassers, begleitet von Schnee und tobendem Sturm. Die tiefsten Stellen – der Neue Markt und die Boltentorstraße – sind überflutet. Schon bei gewöhnlichem Hochwasser steht hier alles unter Wasser. Jetzt steigt die Flut um zusätzliche fünf Meter. Die Versuche der Bewohner, die Häuser mit Bretterwänden, die mit Lehm verschmiert wurden, zu schützen, schlagen fehl.

Um 10 Uhr tobt über der Stadt ein Orkan. Hagelkörner von der Größe von Haselnüssen prasseln herab. Blitze zucken über den Himmel, Donner grollt bedrohlich. Zwei Stunden später läuft die Flut über die Emsmauer, strömt über den Friedhof, legt Gräber und Särge frei, menschliche Gebeine schwimmen im Wasser. Am Delft steigt das Wasser über das Geländer der fünfbogigen Rathausbrücke, Straßen verwandeln sich in Kanäle, Mauern stürzen ein, die Pflasterung verschwindet in tief ausgespülten Löchern, ganze Häuser versinken vollständig im Wasser, andere sind nicht mehr bewohnbar. Zweimal hat die Flut sich über die im wesentlichen ungeschützte Stadt ergossen, und was sie hinterlässt, ist ein Chaos.

Später werden Schadenslisten angefertigt – die für Emden umfasst elf Seiten. Da wird zum Beispiel aufgelistet, in welcher Straße welche Schäden aufgetreten sind. Die Berechnung erfolgt dabei in der Maßeinheit „Rute“. Je nachdem, ob man die hannoversche oder die preußische Rute zugrunde legt, bedeutet eine Rute entweder rund 4,6 oder 3,8 Meter. In der Straße Hinter dem Alten Fleischhaus – so kann man den Tabellen entnehmen, ist das Straßenpflaster auf einer Länge von 31 Ruten völlig zerstört. In der Kleinen Osterstraße sind es 21 Ruten, am Torfmarkt rund 30 Ruten.

Nachdem der Orkan abgeflaut ist, stellt sich heraus, dass auch die Emsmauer an mehreren Stellen gebrochen ist. Hier eine Grafik aus dem 18. Jahrhundert

Verzeichnet wird aber auch, was sonst zerstört wurde: Zwischen beiden Sielen ist das Gewölbe des alten Neuen Tores eingestürzt. Die Emsmauer ist an mehreren Stellen gebrochen, ebenso der Strohdeich in Südfaldern, Dort, wo die Lange Brücke gestanden hat, die schon 1817 bei einer Sturmflut weggerissen wurde, ist nun auch das sogenannte Baumhaus verschwunden, von wo aus der Ratsdelft geschlossen werden konnte. In der Oldersumer Straße wurde die Seitenmauer eines Hauses durch einen Balken zerstört, den die Flut mit Wucht gegen das Gebäude schleuderte. Auf Schreyers Hoek ist eine Aussichtsplattform zerstört. Eine Bretterwand, die in der Brückstraße als Schutz gegen das Wasser aufgebaut war, ist weggerissen worden, so dass Nordfaldern überschwemmt wurde. Reihenweise sind Gartenmauern umgestürzt, Häuser wurden teilweise bis auf die Fundamente zerstört. Am hölzernen Herrentor und seiner schützenden Palisadenwand wurde eben diese „völlig ruiniert“, wie es in der Statistik heißt.

Einen großen Bericht über das Ereignis gibt der Theologe Johann Christian Hermann Gittermann (1768 bis 1834). Er resümiert: „Genug – die ganze Stadt war sich selbst nicht mehr ähnlich und zeigte dem Blick des Betrachters überall nichts als die Spuren der schrecklichsten Zerstörung.“ Und mit Blick auf Emdens Umgebung befindet er: „Seit der Weihnachtsflut im Jahre 1717 war ein solches Elend in diesem Lande nicht gesehen. Niemand der jetzigen Einwohner hatte ein Ähnliches erlebt. Aller Herzen bewegte innige Trauer und schwere Besorgnis. Von allen Seiten ertönten Seufzer und Klagen. Das ganze gesellschaftliche und bürgerliche Leben war zum Jammer geworden.“