Das Innerste berührend

Nesse. Die St. Marienkirche, ein neuer Spielort der Gezeitenkonzerte ist blitzeblank. Alle Kerzen an der drei großen Kronleuchtern und sämtliche in den Wandhaltern brennen. Selbst die Oster- und Altarkerzen sind angezündet. Weiße Pflanzen stehen in hohen, silberfarbenen Bodengefäßen, weiß sind auch die Blumengebinde auf dem Altar.

Konzert mit Violinistin Antje Weithaas vor dem mächtigen Letter der Marienkirche. Bilder: Karlheinz Krämer

Ein Mitglied des Kirchenvorstands erzählt, dass man vor dem Konzert der berühmten Geigerin Antje Weithaas noch einmal gründlich geputzt habe. Und um einige Spinnweben von dem schönen Epitaph von 1668 hoch an der Südwand der Kirche zu entfernen, habe man gar zu einem Obstpflücker gegriffen – wegen des langen Stiels. Sonst hätte man die oberen Schmuckelemente gar nicht erreichen können.


Die bildschöne Kirche mit ihrem imposanten dreibogigen steinernen Lettner vor dem Chorraum bietet einen eindrucksvollen Hintergrund für ein Konzert, dass das Innerste berührte. Werke von Bach, Ysaÿe und Kurtág bildeten das Programm von Antje Weithaas, die mit ihrer Violine von Peter Greiner einen Solo-Abend gestaltete – und das mit sehr viel Einfühlungsvermögen, einem hohen Vermögen, die Spannung zu halten und – gegen Ende – womöglich noch zu steigern. Ein Programm für eine Meisterin ihres Fachs, als die Antje Weithaas gilt.

Auf einen Blick: die St. Marienkirche von Nesse mit ihrem einzeln stehenden Glockenturm und dem gepflegten Friedhof

Während des Abends war immer wieder zu hören, wie unkompliziert die Geigerin und Geigen-Professorin im Umgang sei, wie zugänglich, freundlich und nahbar. Im Konzert ist sie konzentriert und ganz auf das Programm bezogen. Trotz der komplexen Materie wirkt sie entspannt. Sie nimmt nicht den Weg durch das Langschiff, sondern wählt den Eingang durch den Chor. So ist sie ohne große Umstände präsent. Sie ist da.


Und dann geht es ums Ganze. 160 Besucher in der ausverkauften Kirche warten gespannt – und werden nicht enttäuscht. Violine solo – das ist auch für ein Publikum nicht leicht zu verarbeiten. Doch Antje Weithaas bietet ein bestrickend schönes Programm, das 17. und 19. Jahrhundert geschmeidig gegenüberstellt. Ihre Geige von 2001 hat einen etwas harten Klang, aber zu der Musik des Barock passt das ebenso wie zu den moderneren Werken. Bach rückt dadurch noch stärker in einen zeitlosen Zusammenhang, gewinnt in der universellen Ansprache an Wertigkeit. Die Kompositionen von Kurtág und Ysaÿe wirken dadurch nicht konfrontativ, sondern etablieren sich als Musik aus demselben Geist in einer leicht veränderten Formensprache.

In der Pause durften sich die Konzertbesucher im schönen Garten des sanierten und privat bewohnten Steinhauses von Nesse ergehen

Und als am Ende der Partita für Violine solo Nr. 2 in d-Moll die berühmte Ciaccona in einer großartigen Interpretation erklang, da stellte Antje Weithaas selber die Frage: „Was kann man nach der Ciaccona als Zugabe geben?“ In der Tat, mit den Klängen dieses intensiven Werkes dürfte es wirklich nur einen abschließenden Punkt geben. Doch der „Ausweg“, den die Musikerin wählte, war ein geschickter Schachzug. Als ein „hoffnungsvolles Zeichen“ wählte sie das Andante aus der F-Dur-Sonate von Bach – und bezog sich damit auf das diesjährige Motto der Gezeitenkonzerte.