Potzblitz! Was für ein Abend!

Emden. Das „Komponistenporträt“ im Rahmen der Gezeitenkonzerte in der Kunsthalle. Zunächst verläuft alles erwartbar: Vorstellung der Protagonisten. Ein erstes Stück. Zeitgenössisch – natürlich, aber mit merkwürdig schillernden leuchtenden, manchmal kristallinen Klangfarben. Komponist Thilo Thomas Krigar (geboren 1961) spielt es selber auf dem Cello. Es hat sich ein kleiner, aber sehr interessierter Kreis von Liebhabern des Formates zusammengefunden. Geschickt moderiert wird der Abend von Raoul Philip Schmidt, organisatorischer Leiter des Festivals.

Die Pythagoras Strings in der Besetzung Dmitri Tombassov (Violine), Salvatore Di Lorenzo (Viola), Thilo Thomas Krigar (Violoncello) und Henrik Lücke (Tenor). Bilder: Karlheinz Krämer

Schon ist der Hörer mittendrin in den bemerkenswerten Besonderheiten. Dieses erste Stück heißt „Leuchten“, stammt von 1988 und baut auf Klängen auf, die der Komponist im Ohr hatte, als ihn bei einem Aufstieg im Gebirge die Höhenkrankheit überfiel. Die Klänge konnte er im Innern bewahren und später auf sein Cello übertragen. „Leuchten“ sei im Grunde sein Opus 1. Er spiele es immer wieder, machte Krigar deutlich. Zugleich habe das Berg-Erlebnis bei ihm die Überzeugung geweckt, dass es einen sehr konkreten Anlass braucht, um überhaupt moderne Musik komponieren zu können.

Gespräch am Bühnenrand: Thilo Thomas Krigar und Raoul Philip Schmidt

Und so war auch ein anderes Werk von Krigar gebunden an ein greifbares Erlebnis. Das hatte mit dem berühmten Schauspieler Otto Sander zu tun, mit dem Krigar ein gemeinsames, musikalisch-literarisches Projekt durchgeführt hatte. Die Anregung Sanders: ins griechische Thessaloniki zu reisen. Die Stadt war 1997 Kulturhauptstadt Europas, und Krigar komponierte dann den deutschen Beitrag für dieses Ereignis: die „Odyssee – eine literarische Reise in musikalischen Bildern“.

Die Musik, von der das Publikum einen Auszug zu hören bekam, ist psychologisch angelegt, auch deskriptiv, sehr exakt: Polyphemos, der Einäugige. Die heulenden Sirenen. Die Winde des Aiolos. Die „Pythagoras Strings“ spielen in der Besetzung Dmitri Tombassov (Violine), Salvatore Di Lorenzo (Viola), Krigar als Cellisten und dem Tenor Hendrik Lücke. Und der singt mit raumsprengender Wucht auf Altgriechisch. Potzblitz! Das ist einmal ein Statement.

Doch so richtig staunenswert wird es nach der Pause. Da offenbart sich der Komponist und Cellist als Naturwissenschaftler. Er hat ein System entwickelt, um die menschliche DNA in Töne zu übersetzen. Dabei hat er die berühmte Doppelhelix so komponiert, dass man das Gefühl haben kann, inmitten dieser Konstruktion zu stehen.

Aber auch Aminosäuren hat Krigar vertont. Wie sich das anhört, konnte das Publikum in dem Titel „Biologics“ verfolgen – und erleben, dass da eine ganz eigene, bis dahin unerhörte musikalische Welt kreiert wurde. Sei das nun auch eine Möglichkeit, auf der Basis der vom Komponisten geschaffenen musikalischen Grundstruktur fortan durch Künstliche Intelligenz (KI) komponieren zu lassen, will eine Zuhörerin wissen? Krigar kann sich das Lächeln nicht verkneifen. Eher nicht, meint er. Denn um das Ganze zu einer Komposition zu machen, müsse harmonisiert, ausgewählt, bewertet werden. Ein komplexer Vorgang. „Noch nichts für KI.“

Teil der Komposition „DNA in concert“ als digitale Matrix. Thilo Krigar zeigt hier die Erde, die sich auf dem Mond (weiter rechts) als Schatten abbildet

Per digitalen Tonbeispielen kann man eine weitere Facette des Komponisten Krigar erleben – den orchestralen Klang. 2024 bekam er den Auftrag, für das 200-jährige Jubiläum der Laeisz-Reederei in Hamburg eine große Musik zu schreiben. Es entsteht die „Ode an das Meer“, für die Krigar Texte von Theodor Storm, Homer, Emily Dickinson, aus der Bibel oder auch ein Haiku verwendet. „Worte aus vielen Sprachen und vielen Regionen.“ Inspirationen zum maritimen Klang holt sich Krigar bei einer Reise nach Helgoland.

Spielte „Pan“: Oboist Peter Michel

Einen Satz des portugiesischen Seefahrers Ferdinand Magellan (um 1480 bis 1521) hat er in der Ode zentral gestellt. Von dem Entdecker ist sinngemäß diese Feststellung überliefert: „Die Erde ist rund. Ich habe ihren Schatten auf dem Mond gesehen.“ Krigar lässt seine fertige Partitur digital als Klangmatrix darstellen und findet nun tatsächlich die optische Entsprechung seiner musikalischen Vorstellungen.

2019 erhält der Komponist einen Auftrag, der ihn ein halbes Jahr lang durchgehend beschäftigt. Er soll ein Werk für Oboe solo zu einer Skulptur des Bildhauers Thomas Duttenhoefer „Pan mit Flöte und Weinschlauch“, die der Kulturverein Wachenheim e.V. bestellt hatte, schaffen.

Stellte dar, wie er chemische Elemente in Musik umsetzte: Komponist Thilo Thomas Krigar

Für Krigar ein ungewohntes Terrain, weil er noch nie für dieses Instrument komponiert hatte. Oboist Peter Michel habe ihm während dieser Zeit mit Geduld und Kompetenz zur Seite gestanden, berichtet Krigar. Michel ist es auch, der das farbenreiche Stück in der Kunsthalle spielt und hinterher davon spricht, welche Herausforderung die Komposition darstelle, da er in Klangbereiche hineinkommen müsse, die man sonst überhaupt nicht benötige.

Die Komposition „Strömung“ nach Gedichten von Ingeborg Bachmann schließt einen Abend voller Kontraste und anregender Musik eines ungemein sympathischen Komponisten schlüssig ab. Es geht um das Existenzielle: Leben und Tod. Was sonst?