Entführung in eine skurrile Fantasiewelt
Emden. Das „weltbekannte, unbekannte Miranda“ hat 382 Bewohner, aber ein eigenes Bratschen-Orchester, eigene Folklore und natürlich auch ganz eigene Musik samt Nationalhymne. Gesprochen werden dort sämtliche Sprachen der Welt, aber der spanische Einfluss ist markant. Und natürlich erreicht man in Miranda ein biblisches Alter.

Bei Gezeitenkonzerten ist alles möglich, und so entführten die beiden Regisseure Barbara Bürk und Clemens Sienknecht die Gäste in der ausverkauften Johannes a Lasco Bibliothek in eine Fantasiewelt, wie sie bunter und schräger nicht sein könnte. Tatkräftig unterstützt wurden sie von den Bratschen-Gruppe des NDR Elbphilharmonie Orchesters, die sich als wahre Alleskönner erwiesen. Sie spielten, sangen – mal solo, mal als Chor -, sie tirilierten als mirandolesische Nationalvögel, betrieben Bühnengymnastik, bliesen „Muschelhörner“ und – natürlich – sie bratschten sich durch die mirandolesischen Eigenheiten.

Es war ein Riesenspaß, der davon lebte, das die Profis die Grundlage beherrschten – ihre Instrumente. Dabei war es erstaunlich, wie vielfältig der Klang der Bratsche sich erwies. Gemeinhin wird er als dunkel, melancholisch und herb eingestuft. Doch mangels anderer Instrumente, die einen direkten Vergleich zulassen würden, entlockten die Bratscher ihren Instrumenten eine wohlabgestufte bunte Tonigkeit – höchst angenehm für das Ohr. Klar, dass die Bratscher die klassische sowie traditionell-mirandolesische Musik spielten, die – natürlich nur zufällig – starke Ähnlichkeiten zu Kompositionen von Mozart, Schubert, Schumann, Saint-Saëns, Dvořák, Grieg, Ravel, Orff, Gershwin, Chatschaturjan, Schostakowitsch, Ennio Morricone, John Williams oder den Beatles aufwies.

Auf der Bühne gibt es nicht nur Musik. Zudem geschehen unerhörte Dinge. Musiker kauen Kekse, streiten sich, lassen Dinge klappernd zu Boden fallen, unterhalten sich. Kurz: Es entwickelt sich auf der Bühne mirandolesisches Chaos. Im Mittelpunkt der mit „Musiktheater“ nur unzureichend beschriebenen Vorgänge steht Clemens Sienknecht, der als Conférencier, Ballett-Tänzer, Klavier- und Triangelspieler und als Sänger fungiert. Man staunte, wie er die komplexen Texte und Fantasienamen fließend und fehlerfrei im Schnelltempo aussprechen konnte. Ganz großartig.


Und dann war da noch die Sache mit dem künstlerischen Leiter Matthias Kirschnereit, der eigens dieser Veranstaltung wegen (Bürk und Sienknecht sind in Hamburg seine Nachbarn) angereist war. Tags zuvor aus Japan in Hamburg angekommen, hatte er für den Weg nach Emden die Bahn als Transportmittel gewählt. Aber anders als der pünktliche Flieger kam der Zug mit 77 Minuten Verspätung am Bahnhof an. Das passte derart zu dem irrwitzigen Abend, dass man sich fragte, ob diese Verspätung wohl auch zur Gesamt-Inszenierung gehörte. Aber es war offensichtlich die Realität, die sich wunderlicher zeigte als jede Fiktion.

