Text und Ton in kultureller Nähe

Aurich. Erstmals öffnete die Reformierte Kirche in Aurich mit ihrer eindrucksvollen Kuppel die Tore für ein Gezeitenkonzert. Verständlich, dass man für diesen Anlass – ein Epilog-Konzert im Rahmen des Festivals – ein außergewöhnliches Programm ausgewählt hatte. Es gab eine Begegnung von europäischer Musik und japanischer Literatur. Ausführende waren der künstlerische Leiter der Gezeitenkonzerte, Matthias Kirschnereit, und seine Schwester, die Japanologin, Übersetzerin und Professorin – zuletzt an der Freien Universität Berlin -, Irmela Hijiya-Kirschnereit. Beide hatten ein illustres Programm zusammengestellt, das neun Kompositionen zwischen Mozart und Debussy sowie sechs japanische Literaten, darunter drei Frauen, zu einem unterhaltsamen, aber auch nachdenklichen Abend verknüpfte.

Mit Publikum: Irmela Hijiya-Kirschnereit und Matthias Kirschnereit. Bilder: Karlheinz Krämer

Was die Geschwister verbindet, ist die souveräne Art, mit der beide ihre Kunst betreiben. Und Kunst ist es sicherlich, denn die sprachliche Exzellenz der Lesung korrespondierte in schöner Weise mit der Qualität der Kompositionen. Es ergab sich dabei keineswegs ein harmonisches Miteinander. Das war auch nicht angestrebt. Text und Ton stellten jeweils einen eigenen „Körper“ dar. Aber beide Teile – Lesung wie Klavierspiel – markierten atmosphärische Zustände, die sehr wohl einen gemeinschaftlichen „Urgrund“ aufwiesen, eine kulturelle Nähe.

Da waren 1000 Jahre alte Texte einer anonymen Frau mit dem Kunstnamen Sei Shonagon, deren „Kopfkissenbuch“ Texte in tagebuchähnlicher Form beinhaltet, Überlegungen und Reflexionen, die im Grunde ganz modern sind. Aus den „Handteller-Geschichten“ von Kawabata Yasunari, dem ersten japanischen Literatur-Nobelpreisträger, las Irmela Hijiya-Kirschnereit „Das Kanarienpärchen“, eine tieftraurige Geschichte, in der sich womöglich die Lebensumstände des von ständigen familiären Todesfällen bedrängten Dichters widerspiegeln. Regelrecht schockierend dagegen entwickelte sich der Text von Ito Hiromi, in dem Tod und Verbrennung eines Menschen thematisiert werden und die Familie schließlich die Überreste der Kremierung begutachtet.

Die Geschwister bei der Probe in der reformierten Kirche zu Aurich

Der Pianist setzte den „japanischen Kostproben“ seiner Schwester kurze Musiken entgegen, die Schuberts „Von fremden Ländern und Menschen“ zum Ausgangspunkt nahm, um „Erinnerung“(en) wachzurufen, bewegenden Gedanken nachzusinnen, das fröhliche „Rondo alla Turka“ anzustimmen oder den Bewegungen des Wassers pianistisch zu folgen. Als Höhepunkt des musikalischen Teils der Lesung entwickelte sich Wagners einsätzige „Sonate für das Album von Frau M.W.“, das ein Dankeschön für ein zur Verfügung gestelltes Darlehen war. Diese bewegte, glückliche Komposition ging dann nahtlos über in die Lesung einer Geschichte „Glück“ von Uni Chiyo. Und so befruchteten sich die Beiträge gegenseitig.

Moderierte den Abend auch: Irmela Hijiya-Kirschnereit

Die freundlich charmante Art, mit der beide Kirschnereits dem Publikum begegneten, wurde von diesem mit zugewandter Aufmerksamkeit beantwortet. Und so endete der Abend mit langem Applaus der rund 200 Besucher und einem Kompliment von Irmela Hijiya-Kirschnereit, die sich bei den Anwesenden ausdrücklich für deren intensives Zuhören bedankte.