Streiflichter der Aufklärung

Teil 1: Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage, was ist Aufklärung“

Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor (Bild) ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.

Von DR. MICHAEL WEICHENHAN

Emden. Der 300. Geburtstag des Königsberger Philosophen Immanuel Kant (1724 bis 1804) ist Anlass, im Jahre 2024 nicht nur an ihn zu erinnern, sondern auch auf eine Epoche zurückzublicken, die eng mit seinem Werk verbunden ist: der Aufklärung. Kant hat das, was dieser Ausdruck bedeutet, in Formulierungen gekleidet, die wirken, als seien sie in Stein gemeißelt:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Sapere aude!
Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Das ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Sätze wie Trompetenstöße. Sie gehen ins Blut wie ein geglückter Werbeslogan. Jeder kennt das: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Und wie bei gekonnten Formulierungen so oft, besteht auch hier die Gefahr, dass der schmetternde Satz zur bloßen Floskel wird, zum „geflügelten Wort“.

Sapere aude!“ Immanuel Kant. Nach einem um 1790 angefertigten Gemälde in Oswald Külpe: Immanuel Kant. Darstellung und Würdigung, Berlin 1921 (5. Aufl.). Sign. JaLB: Philos. 8°1442FH

Kant, Professor der Philosophie im ostpreußischen Königsberg, hat den Aufsatz, der die Frage nach der Bedeutung des Wortes Aufklärung beantwortete, im Dezember 1784 veröffentlicht. Da hatte das Zeitalter, das wir mitunter mit diesem Namen versehen, schon etliche Jahrzehnte hinter sich, ja im Grunde neigte es sich bereits seinem Ende zu. Gotthold Ephraim Lessing war drei Jahre zuvor gestorben; literarisch machen in Deutschland Autoren wie Johann Wolfgang von Goethe, der bereits 1774 mit „Götz von Berlichingen“ einen ganz und gar nicht vernunftgeleiteten polternden Grobian auf die Bühne gebracht hatte, und der genialische Schwabe Friedrich Schiller von sich reden, dessen „Räuber“ 1782 das Mannheimer Theater buchstäblich hatte erbeben lassen.

1784 folgte dann „Kabale und Liebe“. Leidenschaften und Eigensinn bis zu selbstzerstörerischer Verbohrtheit trieb diese Figuren an, doch die ungezähmten Leidenschaften und das Unglück, das über die Unglücklichen schließlich hereinbrach, waren nicht dazu angetan, vor ihnen zu warnen und dem Publikum ein stilles, tugendhaftes Leben anzusinnen. Im Rebellen oder gar dem Räuber verkörperte sich vielmehr das Ideal des selbstbestimmten Menschen, der an den Gittern der obrigkeitlichen Ordnung rüttelt, der aus etwas ausbricht, was als beengend, die eigene Entfaltung unterdrückend oder dem Glücke hinderlich erlebt und folglich bekämpft wird.

Die Dichter, die in den Jahren um 1780 für Aufsehen sorgten, träumten und sprachen zwar auch von einem Ausgang aus der Unmündigkeit, aber die war vor allem fremdverschuldet: Jean Jacques Rousseau, der 1778 verstorbene französische Philosoph und Literat, hatte das in einen Satz gefasst, der an Prägnanz jenen zitierten Sätzen Kants nicht nachsteht: „Der Mensch ist frei geboren, doch liegt er überall in Ketten.“

„Vordenker der Aufklärung“ ist dieses Gemälde betitelt. Zu diesen Vordenkern gehörten zum Beispiel Jean-Jacques Rousseau, Voltaire, John Locke, David Hume und eben Immanuel Kant.
Bild-Quelle: www.geschichte-abitur.de

Kant war umsichtig genug, sich auf kein Zeitalter, keine Epoche zu beziehen, die zur Orientierung in der Geschichte dient, sondern auf eine Haltung abzuzielen, und zwar eine persönliche: „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Aufklärung war und ist kein Stil wie Barock oder Klassik, sie markiert keine bestimmte Regierungsform wie die Ausdrücke Absolutismus oder Demokratie, sie charakterisiert vielmehr eine bestimmte Art zu denken.

Sie ist frei von Vorurteilen, frei gegenüber jeweils herrschenden Meinungen, sie macht sich frei von allem, was geistige Knechtschaft heißt. Das Publikum, an das Kant sich wandte, trug keine Ketten, weder sichtbare wie Sklaven, noch unsichtbare wie Soldaten oder Bauern – reichlich ein halbes Jahrhundert später wird man freilich noch die Arbeiter, die „Proletarier“, jenen Kettenträgern beigesellen.

Die Lektüre der Schriften Kants fällt nicht gerade leicht; um seine Gedanken über die Grenzen der Spezialisten hinaus zu verbreiten, existierten zahlreiche Ausgaben für ein breiteres Publikum. Der Aufsatz zur Aufklärung erschien beispielsweise in der Reihe „Die Deutsche Bibliothek in Berlin“ in dem Band „Immanuel Kants populäre Schriften, herausgegeben von Ernst v. Aster“, Berlin 1914, Sign. JaLB: Philos. 8° 1450FH.

Die Leserschaft des Aufsatzes über das Wesen der Aufklärung waren Bürger und Adlige, mehr oder weniger wohlhabend, eine Gesellschaft von Menschen, die sich für allerlei interessierten, Bücher und Zeitschriften lasen und darüber diskutierten, sich in bestimmtem Rahmen für „aufklärerische“ Gedanken erwärmen konnten. Kant schrieb seinen Text ja zu einer Zeit, in der solche Gedanken sich bereits ausgebreitet hatten und im Bewusstsein zahlreicher Menschen verankert waren.

Man hatte gelernt, kirchliche Dogmen kritisch zu hinterfragen, man hatte sich daran gewöhnt, die eigene Religion und die eigene Lebensweise nicht als einzig mögliche, alle anderen als Gottlose, Wilde und Barbaren zu verachten, den meisten kirchlichen und weltlichen Herrschern war klar, dass Bildung und Wissenschaft der Schlüssel zum Erfolg war. Überhaupt: Erfolg haben, Fortschritte machen, Umstände verbessern – all das sind ja keine selbstverständlichen Ziele, sondern sie zu haben setzt voraus, dass es möglich und sinnvoll ist, überhaupt Veränderungen zum Besseren herbeizuführen.

Das Projekt „Aufklärung“, auf das Kant bereits zurückblicken konnte, hat nicht nur mit freizügigen Gedanken über religiöse Belange zu tun, es besteht aus vielen kleinen Projekten, deren Gemeinsamkeit im Willen zur Verbesserung besteht: Wie lassen sich Hungersnöte vermeiden, die landwirtschaftliche Nutzfläche vergrößern, wieviel Holz darf den Wäldern entnommen werden, um auch in Zukunft noch ausreichend Brenn- und Baustoff zur Verfügung zu haben, wie können Bergwerke effektiver und gefahrloser betrieben werden, wie müssen Soldaten ausgebildet werden, um einen Feind zu schlagen, wie sorgt man für Fachleute, die all dies organisieren?

All dies und hunderte derartiger Fragen charakterisieren, was das Zeitalter der Aufklärung auszeichnet, die in den zum Reich gehörigen deutschen Territorien ganz allmählich nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges (1648) einsetzt und gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausklingt.

Schrieb Kant also davon, was Aufklärung einmal gewesen war? Natürlich nicht. Aufklärung begann für ihn gerade erst, denn das, wovon er sprach, war eben kein Zeitalter, auf das man zurückblicken konnte, sondern die Einstellung der einzelnen Person. Jeder Mensch sollte sich seines eigenen Verstandes zu bedienen den Mut haben und sich nicht von anderen vorschreiben lassen, was richtig, gut und anständig ist. Kant kämpfte nicht gegen Knechtschaft, er kämpfte gegen Unmündigkeit. Er wusste sehr genau, dass es durchaus „aufgeklärte“ Geister sein konnten, die nunmehr der Entmündigung Vorschub leisteten. Man las aufklärerische Bücher – und glaubte, selbst aufgeklärt zu sein. Man unterwarf sich den Spezialisten und Experten, die es ja doch wissen mussten. Der eigene Verstand aber blieb ungebraucht. Für Kant ein untrügliches Zeichen von Bequemlichkeit und geistiger Faulheit:

Bücher als Weg zum Wissen und Ausweis der Gelehrsamkeit. Hier das Frontispiz des in Den Haag erscheinenden Gelehrtenjournals „L’Europe Savante“ in den Jahren 1718-20. Abbildung aus: Jonathan I. Israel, Radical Enlightenment, Oxford 2001, Abb. 13. Sign. JaLB: 08.24.10.132.

„Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Dass der bei weitem größte Teil der Menschen […] den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben.“

Kants Antwort auf die Frage, was denn nun das Allerweltwort „Aufklärung“ eigentlich besage, gab sich mit Hinweisen auf all das Erreichte nicht zufrieden. Er räumte ein, dass es gute Bücher gab, die über dies und jenes aufklärten, dass das Wissen über Naturvorgänge in dem vergangenen Jahrhundert einen bedeutenden Aufschwung erlebt hatte, die Kenntnisse über die Gestalt der Erde und die Völker, die die verschiedenen Landstriche bewohnten, gewachsen, die Religion vernunftgemäßer, Recht, Moral und Erziehung menschlicher geworden waren.

Doch es war die Sache Weniger geblieben, und gerade aufgeklärte Fürsten – Schillers Landesherr, Herzog Karl Eugen von Württemberg, oder derjenige Kants, der Preußenkönig Friedrich II. – wussten aufklärerische Vorstellungen mit eisernem Machtwillen zu kombinieren. Aufklärung aber, so Kant, ist kein Besitz, sie bedeutet Arbeit, seinen Verstand zu bilden, sie besteht im Mut, diesen Verstand auch zu gebrauchen. Wer zu solcher Arbeit und zu solchem Mut nicht willens ist, bleibt auch in einem aufgeklärten Zeitalter unmündig.