Als der Emder Wall geopfert werden sollte

Ein Beitrag aus der Geschichte der Seehafenstadt

Emden. Ende der 60er / Anfang der 70er Jahre ging man davon aus, dass Emden einem radikalen Wachstum unterliegen würde. Auf ein Anwachsen der Bevölkerungszahlen bis zu 100 000 lauteten die Schätzungen. Zudem nahm der Autoverkehr rasant zu. Die Stadt würde diesem doppelten Wachstum nicht gewachsen sein, so die Prognosen. Daher müsste man die Wegeführung innerhalb der Stadt anpassen. Im Mittelpunkt der Diskussion, die zwischen 1967 und 1979 die Wogen in Emden hochschlagen ließ und zur Gründung einer Bürgerinitiative führte: der historische Emder Wall.

Idyllisch und alt: der Emder Wall aus dem 17. Jahrhundert. Archivbild

Mit dieser kurzen Phase der Geschichte Emdens beschäftigt sich der wissenschaftliche Mitarbeiter im Ostfriesischen Landesmuseum, Aiko Schmidt, in einem Beitrag für das Emder Jahrbuch 2022. Auf 30 Seiten entwickelt er das Geschehen, das die Emder Bevölkerung aufwühlte, die Politik zu eindeutigen Stellungnahmen veranlasste und einen Einblick in die Arbeit des damaligen Stadtbaurates Helmut Rebenstorf gewährt. Letztlich, so legt Schmidt dar, führten die Auseinandersetzungen dazu, dass der Wall des 17. Jahrhunderts im Jahr 1979 unter Denkmalschutz gestellt und somit unantastbar wurde.

Der Ausgangspunkt der Darstellungen Aiko Schmidts führt zurück in das Jahr 1967, als der in Hannover tätige Diplomingenieur Hellmuth Schubert von dem damals noch amtierenden Stadtbaurat Peter Diederichs den Auftrag erhält, einen neuen Generalverkehrsplan für Emden zu entwerfen. Das Büro Schubert schlug unter vielen anderen Maßnahmen auch vor, einen befahrbaren Wall-Innenring anzulegen. Im Bereich des Boltentorviertels hätte das den Verlust eines ganzen Wallabschnitts bedeutet. Es habe aber sogar den Gedanken gegeben, so hat Aiko Schmidt bei seinen Recherchen herausgefunden, den Wall im Bereich Boltentor komplett abzureißen und ihn als Trasse für eine vierspurige Schnellstraße zu nutzen.

Eine neue Verkehrsführung, die am und sogar auf dem Wall verlaufen sollte. Bild: entnommen dem Aufsatz von Aiko Schmidt „Der Emder Wall in den innerstädtischen Verkehrsplanungen der 1970er Jahre, Emder Jahrbuch 2022, Seite 151

Der Bauausschuss befasst sich zwar Ende der 60er Jahre mit dem Thema, doch was die Fraktionen zu hören bekommen, wird zunächst als „Information“ bezeichnet. Allerdings macht sich bei SPD und CDU erstes Unbehagen breit, als man von der Einbeziehung des Walls in die Verkehrsplanung hört. Doch dann ruht das Projekt erst einmal und kommt erst 1972 wieder auf den Tisch – im städtischen Verkehrsausschuss. Hier wird die neue Verkehrsführung als „notwendige Zukunftsplanung“ vorgestellt. Das Ziel: der Bau einer neuen Straße direkt am Wall entlang von der Auricher Brücke bis zur Abdenastraße. Kostenpunkt: 3,44 Millionen Mark.

Am 18. Februar 1976 erläutert Hellmuth Schubert dem Rat in vertraulicher Sitzung seine überarbeitete Fortschreibung des Generalverkehrsplans: Abriss von Häusern, die den 2. Weltkrieg überstanden haben, oder Bau einer Straße teilweise auf, teilweise unterhalb des Walls. Von einem Ratsmitglied kommt der Vorschlag, lieber einige Wasserläufe zugunsten des Autoverkehrs aufzugeben, aber das wird von Schubert abgelehnt, weil die Kanäle ein „Charakteristikum Emdens“ wären.

Zwei Monate später, im April 1976, ist das Thema wieder im Rat. Dieses Mal stellt Rebenstorf die Planungen als Bebauungsplan D 99 vor. Und nun wird es lebhaft unter den Kommunalpolitikern. Der Wall sei eines der wenigen Zeugnisse der Emder Geschichte, zudem ein Naherholungsgebiet. Er dürfe nicht dem Verkehr geopfert werden. Man dürfe dem Emder Wall keinen Schaden antun, heißt es von Seiten der SPD- und der CDU-Fraktion.

Vergrößerung der obigen Skizze. In Gelb eingezeichnet: der projektierte Straßenverlauf im Boltentor-Viertel. Hier sollte der Wall abgetragen werden, um einer vierspurigen Schnellstraße Platz zu machen

Jetzt kommt das Thema auch in der Emder Bevölkerung an. Es bildet sich im Frühjahr 1976 die Bürgerinitiative „Erhaltet die Emder Wallanlagen“, die erklärt: „Der Wall ist für solche Planungen tabu“, er müsse unter Denkmalschutz gestellt werden. Und wenn die Veränderung der Wegeführung nur dazu diene, aus der Neutorstraße zwischen Agterum und Rathausplatz eine Fußgängerzone zu machen, dann „ist der Preis für diese Fußgängerzone zu hoch“, argumentiert die Initiative.

Die Eingriffe bei einer Erweiterung des Philosophenweges, bei der der Wall angeschnitten und durch eine Mauer von der Straße abgetrennt wurde, werden von der CDU-Fraktion mit herangezogen, um auf die Nichtumsetzbarkeit der Planung Schuberts hinzuweisen. Für die Christdemokraten sei es nicht denkbar, „dass in diesem heute so ruhigen, idyllischem Gebiet unserer Stadt eine Straße, ähnlich dem Philosophenweg gebaut werden könnte“, bezieht man mit Blick auf das Boltentor-Viertel Stellung. Rebenstorf ist da ganz anderer Meinung. Und Aiko Schmidt zitiert die Stellungnahme des Stadtbaurates: „Die Mauer am Philosophenweg ist eine wallerhaltende und -gestaltende Maßnahme als Nebenerscheinung des Straßenbaus.“

Auch die FDP lehnt Eingriffe in die Wall-Struktur kategorisch ab. Man sei dafür, die „verbliebenen Schönheiten in der Innenstadt“ zu erhalten. Damit ließe sich „ein Niederreißen der Wallanlagen und schöner alter Häuser etwa im Bereich Sleedriverstraße“ nicht vereinbaren. Zudem hänge die Stadtverwaltung der Idee einer autogerechten Stadt nach, „die von der zwischenzeitlichen Entwicklung der Städteplanung längst überholt ist“.

Die Diskussion wird aggressiver. Rebenstorf wird vorgeworfen, keine Alternativen zu der Schubert-Planung entwickelt zu haben oder die Stadt nicht für Menschen, sondern für den Autoverkehr zu planen. Auch das Umland mischt sich ein. Reaktionen kommen aber auch aus Hamburg, Göttingen und der Lüneburger Heide, hat Schmidt festgestellt.

Das Ende des Projektes kommt nun rasch. Die Bezirksregierung in Aurich lässt im Februar 1977 auf Antrag der Bürgerinitiative prüfen, ob der Emder Wall als Denkmal einzustufen ist. Das geschieht Anfang März 1977. Doch diese Zusicherung ist der Initiative nicht genug. Sie fordert, dass Kulturausschuss und Rat der Stadt Emden beschließen, dass der Wall als Baudenkmal unantastbar ist. Das geschieht. Und am 11. Mai 1977 verabschiedet der Rat bei einer Stimmenthaltung den Beschluss, „dass die Emder Wallanlagen ein Baudenkmal im Sinne der niedersächsischen Bauordnung“ sind und beantragt die Aufnahme in die Denkmalliste. Das geschieht zwei Jahre später. Allerdings hat Aiko Schmidt dieses Datum überprüft und festgestellt, dass der offizielle Eintrag als Baudenkmal erst am 17. März 1988 erfolgt sein soll.

So musste sich der Stadtbaurat dem politischen, aber auch dem bürgerschaftlichen Willen fügen.

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